Disruptiv oder Copycat?
Um die Auswirkungen des Lemmingeffekts zu verstehen, muss man wissen, dass die Berliner Szene aus zwei koexistierenden Arten von Start-ups besteht: Einerseits den künstlerisch-idealistischen oder disruptiven Start-ups, die ihr Produkt trotz wenig Kapital entwickeln, wie Trademob, Sociomantic, Loopc.am und Vamos, und andererseits den Inkubatoren und Copycats, welche durch die Investition ihrer meist üppigen Investorengelder in Google-Kampagnen schnell kritische Masse erreichen. Letztere erhalten dank des bereits bestehenden Proof of Concept, der exzellenten Exekutive und ihrer zeitnahen Skalierung schnell Zugang zu ausländischen Investoren, deren Kapital und Netzwerk. Dagegen können disruptive Start-ups schwerer überzeugen, weil glaubhafte finanzielle Erfolge oder statistische Erhebungen als Belege für das Potenzial ihres Businessplans – aufgrund der Neuartigkeit des Konzepts – fehlen und somit nicht als Grundlage für einen Vertrauensvorschuss des Investors fungieren könnten. Weil sie zusätzlich in den frühen Stadien der Produktentwicklung oft wenig Wert auf PR gelegt haben, werden ausländische Investoren überhaupt selten auf sie aufmerksam.
Wandel mit Vorteilen
Doch es sind mehrere Richtungswechsel am Venture Capital-Markt zu beobachten: Während disruptive Start-ups bisher mit eher schwachen Businessplänen und personellen Besetzungen assoziiert wurden, können sie heute von einem dank zahlreicher, erfolgreicher Start-ups und Inkubatoren ständig gewachsenen Pool von erfahrenen und kompetenten Talenten profitieren und mittlerweile, trotz geringer Kapitalisierung, qualitativ kompetieren. Außerdem bauen ausländische, aber vor allem nordamerikanische und englische Investoren ihre Präsenz in Berlin maßgeblich aus, indem sie zunehmend deutschsprachige Experten zur Marktbetreuung anstellen. Dadurch werden bisher bestehende Sprach- und Verständnisbarrieren abgebaut, ein effizienter M&A-Prozess ermöglicht und der Dealflow aktiv ausgebaut.
Ausländische Investoren folgen dem Trend
Diese Entwicklung ist auch dem Lemmingeffekt zu verdanken, welcher sich zunächst neutral manifestiert, ohne einen Sprung der Lemminge über die Klippe: Durch das von Business Angels produzierte Medien- und Netzwerk-Echo wird in letzter Zeit oft eine Investitionskaskade von Seed-Investments ausgelöst. Vielversprechende, aber nur sehr gering kapitalisierte Unternehmen werden so von Investmentangeboten im mittleren, ein- bis zweistelligen Millionenbereich überhäuft und die Bewertungen steigen rapide bei gleichen Umsätzen. Infolgedessen werden auch ausländische Investoren auf Berlin aufmerksam und schließen sich dem Trend an. Heute präferieren einige Investoren Berlin bereits gegenüber London.
Größere Risikobereitschaft, höhere Bewertungen
Ausländische Investoren unterscheiden sich von deutschen maßgeblich: Für Start-ups bieten sie vor allem ein internationales Top Tier-Netzwerk, welches die Steigbügel zu einer erfolgreichen Skalierung und internationalen Etablierung reichen kann. Doch sie sind nicht nur Deal-driven, transaktionserfahrener und somit dynamischer, sondern haben auch ein risikofreudigeres Investmentprofil, das vom ständigen Vergleich zum amerikanischen Markt geprägt wird und wesentlich höhere Bewertungen erlaubt. Denn deutsche Start-ups bieten ausländischen Investoren zu einem vergleichbar geringen Preis erprobte Businesspläne und ein kompetentes Management. Infolgedessen sind diese bereit, deutsche Investoren zu überbieten. Beispiele dafür sind der Verkauf von DailyDeal an Google, brands4friends an eBay, cascanda an fab, Kapitalerhöhung von Macquarie bei Lieferando, aber auch die Kapitalerhöhungen bei Zalando. Folglich ist die Risikoaffinität zusammen mit dem Lemmingeffekt maßgebender Impuls höherer ausländischer Investitionen in Berlin. Diese durch den Lemmingeffekt erreichten hohen Bewertungen sind für jegliche Start-ups, aber vor allem für die Jungunternehmen aus Berlin, sehr positiv und für Investoren als zunächst neutral zu bewerten. Dennoch muss man ausländische Investoren vor einer Gewinnüberschätzung aufgrund überenthusiastischer Vorhersagen warnen, weil die angedachten Gewinnspannen meist nicht ohne vorherige Validierung durch selbst erworbene Marktkenntnisse oder eine bereits realisierte Monetarisierung zu erreichen sind.
Investoren setzen auf Beratung
Für eine strategisch erfolgreiche Akquise muss sich das Start-up entweder nahtlos in das bestehende Geschäft integrieren oder ein neues Geschäftsfeld konsekutiv-konkludent erschließen. Deswegen ist Investoren, aber auch Start-ups zu raten, externe Berater hinzuzuziehen, die beider Strategien und Bedürfnisse sowie die strategischen Vorgänge am M&A-Markt kennen und bereits Expertise im Entrepreneurship-, Internet- und Technologie-Bereich erworben haben. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ausländische Investoren zwar dank des Risikoprofils bereit sind, deutsche Investoren zu überbieten, dies aber nur umsetzen, wenn sie ihre Risikoanalyse durch eine externe Beratung absichern können.
Investitionsdruck steigt
Wir erwarten dennoch, dass sich die bereits eingesetzte Steigerung der Deal-Aktivitäten gegen Ende des Jahres weiter fortsetzen wird. Gerade weil im Sommer 2012 wenig internationale Transaktionen stattgefunden haben – einerseits aufgrund der Verunsicherung der Investoren durch die Ereignisse um die Euro-Rettung, den Dollar-Wechselkurs und andererseits aufgrund der hohen Intransparenz der Berliner Start-up-Szene – beobachten wir mit Interesse, dass die Liquidität und damit der Investitionsdruck ausländischer Investoren gestiegen ist. Dies zusammen mit der zunehmenden Verdichtung der New Business-Segmente zwingt Investoren zum schnellen Handeln, um noch Anteil an den kommenden Erfolgsstorys der wahren Start-up-Juwelen zu haben. Denn obwohl Investoren wie Accel Partners, Insight Venture Partners und Index Ventures bereits in Berlin gut etabliert sind, müssen andere wie beispielsweise die Macquarie Group, Time Private Equity und ru-Net ihre Präsenz erst durch weitere Deals behaupten.
Fazit:
Es mag teilweise richtig sein, dass die kreative Start-up-Szene alleine nicht ausreicht, um weitere ausländische Investoren zu locken. Fakt ist aber, dass internationale Investoren Berlin avisieren, weil sie anerkennen, dass es ein effizient operierender und innovativer Pool humanen Kapitals ist, welcher – mit ausreichend finanziellen Mitteln und der richtigen Strategie ausgestattet – großes Ertragspotenzial bietet. Vorausgesetzt, man weiß zuverlässig die Spreu von den Juwelen der Szene zu differenzieren.