Was die Branche jetzt braucht

Health- und Medtech in Deutschland

Dr. Lutz Müller ist Projektleiter der Gründerinitiative Science4Life
Dr. Lutz Müller ist Projektleiter der Gründerinitiative Science4Life

Bildnachweis: © Science4Life.

Deutschland ist aktuell der größte Medizintechnikstandort in Europa und beschäftigt rund 210.000 Arbeitskräfte. Das Potenzial ist enorm: ­Telemedizin, künstliche Intelligenz (KI) und digitale Plattformen für innovative Kollaborationen. Das Gesundheitswesen befindet sich in einem technolo­gischen Umbruch. Gleichzeitig werden die Herstellungsprozesse und der Marktzugang in der EU immer komplexer, der bürokratische ­Aufwand steigt, und auch die unzureichende Finanzierung von neuen Geschäftsmodellen bremst die Wettbewerbsfähigkeit. Ein Überblick über Trends und aktuelle Entwicklungen des Health- und Medtechstandorts Deutschland.

Die Medizintechnologie gilt als eine der innovativsten und wachstumsstärksten Branchen in Deutschland. Darunter fallen nach Schätzungen des Bundesgesundheitsminis­teriums rund 400.000 verschiedene Produkte für Chirurgie, ­Diagnostik, OP-Material und vieles mehr. Doch die klassischen Produkte werden zunehmend mit digitalen Systemen und daten­getriebenen Modellen erweitert. Sie ermöglichen Behandlungen von Krankheiten, die noch vor zehn Jahren als unheilbar galten. Gleichzeitig können Daten gesammelt und ausgewertet werden, um die Präventivmedizin zu unterstützen und Voraussagen über mögliche Krankheitsverläufe zu treffen. Das steigert maßgeblich die Lebensdauer und -qualität von Patienten.

Telemedizin auf dem Vormarsch

Ein Trend, der sich schon länger abzeichnet und in den letzten zwei Jahren bedingt durch die Corona-Pandemie eine hohe Nachfrage erhalten hat, ist die Telemedizin. Zu den am häufigsten genutzten Möglichkeiten zählt der Videochat mit dem Arzt. Insbesondere in ländlich geprägten Gebieten ermöglicht die digi­tale Form der Sprechstunde einen entsprechenden Komfort und Zugang zu Spezialisten, die vorwiegend in der Stadt angesiedelt sind. Auch die demografische Entwicklung mit zunehmend älteren und multimorbiden Menschen beeinflusst die Nachfrage nach Telecare-Produkten. Monitoring über Wearables und digitale Plattformen ermöglichen eine sofortige Hilfe in Notsituationen. Der Pflegeanbieter erhält einen Alarm und kann unmittelbar reagieren. Auch Informationen wie Blutzucker, Blutdruck oder Puls können über medizinische Wearables, zum Beispiel in Form von Armbändern oder Manschetten, empfangen werden. Zum Schutz demenzkranker Patienten mit Weglauftendenzen werden Telecare-Geräte mit Ortungsfunktionen eingesetzt.

Mit Daten zu innovativer Diagnostik

Wie in nahezu allen anderen Branchen beschleunigt die Digita­lisierung die Entwicklungen im Medtechbereich. Immer mehr Hightechgeräte sind in der Lage, Daten zu gewinnen, die anschließend auf zentralen Plattformen ausgewertet und analysiert werden. Sie bilden die Grundlage für digitale Therapien, KI-gestützte Diagnostik oder innovatives Patienten-Monitoring. Sinn und Zweck dieser Daten ist es nicht, Rückschlüsse auf einzelne Patienten zu ziehen. Im Gegenteil: Sie werden anonymisiert gespeichert und bilden in ihrer Masse eine wertvolle Datensammlung. Das ermöglicht ganz neue Erkenntnisse – etwa das frühzeitige Erkennen von Krankheiten, typische Verläufe oder auch Vorhersagen zu pandemischen Ausbrüchen. Darüber hinaus schreiten Entwicklungen wie reproduzierfähige 3-D-Modelle von Geweben oder Organen, Nanotechnologie, Epigenetik oder Quantum Computing immer weiter voran. Sie unterstützen die Therapie für einzelne Patienten.

Simulationsumgebungen durch IoMT

Die medizinischen Geräte verfügen zunehmend über smarte Sensoren und sind in der Lage, sich untereinander zu vernetzen. Stichwort: Internet of Medical Things (IoMT). In diesem Zusammenhang erweitern viele Medtechunternehmen ihr Hardware­angebot um Softwareplattformen. Zahlreiche Start-ups haben das Potenzial erkannt und entwickeln Softwarelösungen, die herstellerunabhängig funktionieren. Die Daten, die von den Medizin­geräten generiert werden, dienen zum einen der Ana­lyse. Zum anderen können so realitätsnahe Simulationsum­gebungen entwickelt werden, die es ermöglichen, verschiedene Szenarien durchzuspielen, beispielsweise, welche Zwischenfälle bei einer Operation auftreten können.

Virtual Reality schafft neue Möglichkeiten

Moderne Technologien wie Virtual Reality können eine komplett eigene Welt erschaffen, in der Ärzte und Gesundheitspersonal verschiedene Szenarien durchspielen können. Über eine Datenbrille werden Organe oder Geräte in Lebensgröße nachgebildet. Das Personal kann so kritische Operationen bereits am virtuellen Objekt durchführen oder sich an neuen Geräten schulen. ­Neben Virtual Reality wird auch Augmented Reality im Medtechbereich eingesetzt. Dem Gesundheitspersonal werden in der ­realen Welt Zusatzinformationen wie Behandlungsschritte, Infor­mationen zu Krankheitsverläufen oder Therapien angezeigt. Sie unterstützen den Behandelnden bei Diagnose und Thera­pie. Mittels dieser neuen Technologien kann die Befähigung der Fachkräfte auf einem sehr realitätsnahen Level gefördert werden.

Finanzierungen entscheidend für den Standort Deutschland

Innerhalb der Europäischen Union haben die deutschen Medizintechnikfirmen den größten Umsatzanteil. 32 Mrd. von rund 95 Mrd. EUR wurden von Unternehmen mit Sitz in Deutschland generiert, gefolgt von Irland, Frankreich und Italien. Deutschland liegt in Sachen Patenten und Welthandelsanteil in der Medizintechnologie auf Platz zwei im internationalen Vergleich. Eine große Stärke sind die gut ausgebildeten Fachkräfte, Wissenschaftler und Ingenieure sowie die gute Infrastruktur. Laut dem Branchenbericht Medizintechnologien 2020 des BVMed verzeichnen deutsche Medizintechnikhersteller rund ein Drittel ­ihres Umsatzes mit Produkten, die weniger als drei Jahre alt sind – das zeigt die hohe Innovationskraft der Branche. Doch im internationalen Vergleich sind die Finanzierungen gering und gefährden die aktuelle Vorreiterrolle des Standorts Deutsch­land. Während Deutschland in seinen Kernkompetenzen, die eben auch Patentanmeldungen fordern, seine Technologie­führerschaft verteidigt, fehlt es noch an digitalen und daten­getriebenen Modellen.

Fehlende Risikobereitschaft bremst Innovationskraft

Start-ups sind die Innovationstreiber im deutschen Medtech­segment. Doch sie tun sich im internationalen Vergleich schwer, denn insbesondere junge Unternehmen sind auf Venture Capital angewiesen, um den hohen Forschungs- und Entwicklungsaufwand finanzieren zu können. In der ersten Jahreshälfte 2021 wurden bereits weltweit 20 Mrd. USD in den Medtechbereich inves­tiert. Im gesamten letzten Jahr 2020 flossen laut PitchBook nur knapp 98 Mio. USD Wagniskapital in deutsche Medtech-­Start-ups. In Bezug auf Risikokapital steht Deutschland sehr weit unten auf der Liste. Argumente sind fehlende Risikobereitschaft und die lange Entwicklungszeit bis zum Return on Invest.

Fazit

In der Start-up-Szene lässt sich ein starker Trend zu digitalen Geschäftsmodellen beobachten. Diese sind in der Regel schneller skalierbar und benötigen weniger Kapital als Entwicklungen im Hightechbereich. Softwarelösungen und datengetriebene Modelle werden zunehmend wichtiger und können bestehende Hardwaresysteme unterstützen beziehungsweise ergänzen. So können in der Kooperation mit Medtechunternehmen span­nende Synergien entstehen, von denen sowohl etablierte Unternehmen als auch Start-ups profitieren.

Zum Autor: Dr. Lutz Müller ist Projektleiter der Gründerinitiative Science4Life, Deutschlands größten Businessplanwettbewerbs für Life Sciences, Chemie und Energie.