Daumenschraube für Deutschlands Gründer oder Wettbewerbsperspektive?

ESG und Venture Capital

Andre Wassman, Helbling Business Advisors
Andre Wassman, Helbling Business Advisors

Der Klimawandel brennt der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft auch in Europa unter den Nägeln. Die ersten regulatorischen Maßnahmen von EU und auf Bundesebene sind bereits in Kraft getreten. Weitere werden folgen – und früher oder später müssen sie alle Unternehmen umsetzen, unab­hängig von Größe oder Mitarbeiteranzahl. Nachhaltiges Wirtschaften muss deshalb zeitnah Teil jeder Unternehmens-DNA werden, denn die ­Botschaft unseres Planeten ist eindeutig: Handeln wir nicht sofort, gibt es kein Zurück mehr. Jedes Unternehmen steht vor der Gretchenfrage: ­Welche Maßnahmen kann ich wann ergreifen, um zeitnah nachhaltig und verantwortungsvoll zu wirtschaften?

Auch Investoren bemühen sich verstärkt um nachhaltige Investments. Kreditgeber müssen bei der Fremdkapitalvergabe auf Nachhaltigkeit achten. Und die meisten Finanz­plätze wollen kurzfristig Verantwortung für nachhaltige Geldanlage übernehmen. Sustainable Finance gehört damit schon heute zu den zentralen Wettbewerbsfaktoren.

Handlungsdruck belastend

Das schafft Handlungsdruck auf Unternehmensseite. Ein Teil ­beschreibt die derzeitige Situation als immense Belastung. Groß ist die Sorge, ihr Geschäftsmodell könnte über kurz oder lang obso­let werden. Andere hingegen wirken fast schon entspannt – für sie ist die geltende Regulatorik ohne Diskussion umzusetzen. Diese Unternehmen bringen die Ressourcen und Fähigkeiten ein, um den erforderlichen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Für manche Investoren, die offen an die Erfordernisse der Zeit herangehen wollen, wirkt die Chance äußerst motivierend, selbst etwas zur Veränderung beizutragen. Diese neue Menta­lität in Venture Capital- oder Private Equity-Häusern profitiert von strategischen Möglichkeiten des eigenen Netzwerks, unternehmerischer Weitsicht und pragmatischer Umsetzungsfähigkeiten.

Optionen für Start-ups

Wie aber können sich kleine Unternehmen dem drängenden Thema annähern? Für Start-ups, die bereits ein „grünes“ Pro­dukt anbieten und hierüber direkt das Nachhaltigkeitsthema voranbringen – etwa mit Technologien zur Vermeidung oder Reduk­tion von schädlichen Emissionen –, erübrigt sich die ­Frage. Doch was blüht Unternehmen, deren Geschäftsmodell nicht direkt auf einen Beitrag zum Klimaschutz oder ESG-Kon­formität abzielen? Kaum ein Start-up kann sich ohne Weite­res größeren Transformationen stellen. Dennoch müssen auch sie sich mit dem ESG-Druck der Investoren auseinanderset­zen. Für junge Unter­nehmen kristallisieren sich dafür je nach Wachstumsfortschritt und Gesellschafterstruktur vier relevante Optionen heraus:

1. Nachhaltigkeit als Teil des Produktversprechens

Unternehmen haben in der Aufbauphase noch vielerlei Mög­lichkeiten, ESG-Konformität als Bestandteil des Geschäfts­modells zu verankern. Etwa könnte ein Fintech mit Kontoangebot bei ­jeder Transaktion seiner Kunden oder einem Teil der Einlagen nachhaltige Initiativen unterstützen. Diese direkte Verknüpfung von ESG-Konformität als inhärenter Bestandteil des direkten Produkt­versprechens, oder auch die frühzeitige Implemen­tierung direkter ESG-Strategien als Begleitprozess, bieten zwei Vorteile: Sie sind verhältnismäßig aufwandsarm und gleich­zeitig äußerst marketingwirksam.

2. Teilweise oder vollständige Umrüstung von Prozessschritten

Wachsende Unternehmen, deren Geschäftsmodell bereits vollständig aufgebaut, aber noch nicht im Markt etabliert ist, tun sich bei der Transformation schwerer als Start-ups in der Seed-Phase oder Grown-ups. Growth-Unternehmen haben sämtliche Fundings aus der Seed- und Wachstumsphase in den Proof of Concept und den Aufbau erster Absatzmöglichkeiten gesteckt. Dabei hat ESG meist noch keine Rolle gespielt. Für diese Unternehmen gilt es, zügig die eigenen Lieferketten, Produktions- oder Serviceschritte, Prozessabläufe, verwendete Materialien, Distributionswege und sogar die angesprochenen Zielkunden genau zu analysieren und jedes Element auf ESG-Konformität sowie auf mögliche Veränderungsansätze hin zu untersuchen.

3. Aufnahme zusätzlicher Fundings und operativer Unterstützung

Für hieraus erforderliche, weitreichende Schritte benötigen ­diese Unternehmen zusätzliche Mittel. Möglicherweise müssen sie dabei auch Verzögerungen im Tagesgeschäft in Kauf nehmen. Venture Capital- und andere Frühphaseninvestoren sollten bei starken, zukunftsträchtigen Geschäftsmodellen deshalb Geduld und Unterstützungsleistung mitbringen, um dadurch auch ihr eigenes Portfolio ESG-konform zu entwickeln. Gute Teams werden den Pivot hin zu ESG-Konformität meistern, wenn ihre Geldgeber in einem gewissen Rahmen Mittel für die Transformation bereitstellen. Hierbei spielt den Unternehmen eine bereits bestehende Vielfalt an Partnern, Finanzierungsquellen und profes­sioneller Unterstützung in die Karten. Sie können diesen externen Einfluss außerdem als Multiplikator nutzen, um ihre eigene Strategie für die Etablierung eines nachhaltigen Business auf verschiedenen Ebenen voranzutreiben: etwa durch Zuführung von Marktzugängen und Netzwerk, operativem Know-how und Synergien mit anderen Portfoliounternehmen und Geschäftspartnern.

4. M&A als Schlüssel für ESG-Konformität

Auch M&A-Transaktionen können eine attraktive Möglichkeit sein. Finanzinvestoren, aber auch etablierte Scale-ups mit ausreichend Mitteln und liquider Finanzstruktur sollten sich künftig noch stärker von dem Credo des langen Aufbaus organischen Wachstums lösen und bereits in früheren Phasen die Möglichkeit passender Transaktionen ins Auge fassen. Ein Zukauf kann in den meisten Fällen schneller effektivere Ergebnisse liefern und die dringend benötigten ESG-Kompetenzen in die eigene Organi­sation holen. Damit das erfolgreiche Geschäftsmodell nicht zu teuer wird, gilt es, frühzeitig die richtigen Kandidaten zu identifizieren, die die Wandlung hin zu ESG-Konformität ­wirksam vorantreiben könnten. Eine andere Möglichkeit wäre auch der Verkauf einzelner Geschäftsbereiche an einen strate­gischen Investor mit operativer und finanzieller Stärke oder an ein anderes kapitalstarkes Scale-up. Eine solche Strategie muss nicht typischerweise in einem Komplettverkauf enden. Grün­derteam und bestehende Investoren können noch attraktive Geschäfts­bereiche beziehungsweise Unternehmensanteile behalten. Ein Vorteil solcher Kooperationen besteht darin, die spezifischen Stärken des neuen Corporate Partners für den weiteren Ausbau des eigenen Geschäfts zu nutzen.

Fazit

ESG-Konformität ist kein Nice-to-have mehr. Das gilt zunehmend auch für junge Unternehmen. Start-ups sind die typischen Wege, die ein Mittelständler oder Konzern gehen kann, häufig verwehrt. Dennoch gibt es für sie attraktive Optionen, das beste­hende Geschäftsmodell in Richtung ESG-Konformität anzupassen. Die Möglichkeiten reichen von der inhärenten Einbindung eines ESG-konformen Produkts über die Analyse und Anpas­sung bestehender Prozessketten bis hin zum strategischen ­Verkauf oder Zukauf. Auf diesen Wegen kann ESG auch für junge Unternehmen zur Wachstumsperspektive werden. Entscheidend für solche Transformationen sind kapitalstarke Investoren, die dem jungen Unternehmen ausreichend Mittel und Zeit für den Wandel zu mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit zur Ver­fügung stellen.

Andre Wassmann ist Mitglied der Geschäftsleitung und Head of M&A Corporate Finance bei Helbling Business Advisors. Zudem ist er Managing Partner bei Corporate Finance International (CFI), zu dessen Gründungsmitgliedern Helbling Business Advisors zählt.