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Die aktuellen Krisen sorgen für einen schwachen IPO-Markt und große Unsicherheit bei anstehenden Exits. Rechtsanwalt Dr. Bernhard Noreisch ordnet die aktuellen Entwicklungen am Markt ein.
VC Magazin: Die Marktsituation für Start-ups und Venture Capital-Investoren hat sich in der letzten Zeit rapide verändert. Wir erhalten aktuell kaum Exit-Meldungen. Wie bewerten Sie die momentane Situation?
Noreisch: Nach dem Rekordjahr 2021 ist das Marktgeschehen im laufenden Jahr natürlich von vielen Unsicherheiten geprägt. Die Summe der negativen Effekte aus COVID-Pandemie, Ukrainekrieg, Energiekrise, gestörten Lieferketten, Fachkräftemangel und hoher Inflation lässt zahlreiche Marktteilnehmer weiterhin vorsichtig sein. Gerade Käufer mit strategischen Interessen sind daher zurückhaltender als noch im letzten Jahr. Das hat auch Folgen für Exit-Transaktionen. Die Sell-Side hat Schwierigkeiten, ihre Preisvorstellungen zu realisieren, und die Buy-Side überlegt es sich dreimal, ob jetzt der richtige Zeitpunkt für Akquisitionen ist. Sowohl die Anzahl der Trade Sales als auch der IPOs ist daher 2022 stark gesunken. Doch die vielen Krisen bieten natürlich auch Chancen. Etwa in den Bereichen Sustainable Energy, Quantum Computing, Digital Health und AI erwarten wir daher auch in der näheren Zukunft spannende Deals mit attraktiven Bewertungen.
VC Magazin: Das Preisniveau hatte zuletzt exorbitante Höhen erreicht. Welche Investorengruppen zählten in Ihren Augen zu den Preistreibern?
Noreisch: Die Preisentwicklung der letzten Jahre ist natürlich darauf zurückzuführen, dass unglaublich viel Kapital verfügbar war. In Kombination mit der langjährigen Niedrigzinspolitik stieg der Anlagedruck. Die Folge waren ungewöhnlich zahlreiche großvolumige Finanzierungsrunden mit deutlich gestiegenen Bewertungen. Ich habe nicht den Eindruck, dass man diese Entwicklung einzelnen Investorengruppen zuschreiben kann. Das gesamte Marktumfeld hat dazu beigetragen, dass sich die Bewertungen rasant nach oben entwickelt haben. In einigen Fällen sicherlich auch zu Recht, in anderen wird die sich abzeichnende Änderung der Betrachtung hin zu mehr Nachhaltigkeit und tatsächlichem Ertrag erheblichen Druck auf die Bewertungen erzeugen.
VC Magazin: Sie sind als Anwalt seit vielen Jahren in der Venture Capital-Szene unterwegs. Mit welchen Fragestellungen werden Sie aktuell konfrontiert?
Noreisch: Gut performende Start-ups sind unverändert in einer sehr komfortablen Situation. Es ist genug Geld im Markt, und es möchte Anlagechancen realisieren. Wir erleben aber gerade, dass in Investorenkonsortien die Risikoeinschätzungen teilweise stark divergieren und es durchaus herausfordernd ist, die unterschiedlichen Sichtweisen in ein stimmiges Vertragskonstrukt zu überführen. Der angesprochene Druck auf die Bewertungen und der gleichzeitige Wunsch, Downrounds zu vermeiden, führen zudem zu einer Renaissance totgeglaubter Vertragsinstrumente, wie nicht anrechenbare Erlöspräferenzen mit Multiples oder Full Ratchet-Verwässerungsschutzklauseln. Kommt es in der Folge zu einer stärkeren Verwässerung von Gründern, versucht man immer häufiger, dem über die Gewährung sogenannter Growth Shares entgegenzuwirken. Neben den steuerlichen Implikationen ist eine friktionslose Integration dieser Growth Shares in die Beteiligungsdokumentation und -logik erforderlich. Schließlich stellen die immer strenger werdenden ESG-, Geldwäsche- und Compliance-Regelungen stetig neue Anforderungen an das Prozessmanagement und die Vertragsgestaltung. In Exit-Transaktionen spielen hingegen die in den letzten Jahren mehrfach verschärften AWV-Beschränkungen eine immer wichtigere Rolle. Auch W&I-Versicherungen, die schon bei Transaktionen im mittleren zweistelligen Millionenbereich zunehmend zur Anwendung kommen, erfordern ein geübtes Prozessmanagement und eine funktionierende Integration in die Transaktionsdokumentation.
VC Magazin: Worauf sollten Venture Capital-Gesellschaften beim Exit-Management besonders achten?
Noreisch: Aus meiner Sicht ist es besonders wichtig, frühzeitig ein kompetentes Verhandlungsteam zu definieren, das die Verantwortung dafür übernimmt, den Transaktionsprozess zu steuern und dabei die zumindest teilweise divergierenden Interessen der Beteiligten auszugleichen. Neben einem strukturierten und professionellen Prozess im Verhältnis zu den Kaufinteressenten ist meines Erachtens die interne Kommunikation unter den Verkäufern fast ebenso wichtig, um einen reibungslosen Exit zu erreichen. Die Weichen hierfür lassen sich bereits im ISHA stellen, indem man darin entsprechende Klauseln zur Initiierung und Durchführung eines strukturierten Exit-Prozesses verankert. Ein weiteres wichtiges Thema ist die rechtzeitige Prüfung und gegebenenfalls Initiierung von Kartell- oder außenwirtschaftsrechtlichen Anmeldeverfahren. Auch die Anforderungen und die Bearbeitungszeiten der Banken bei der Geldwäscheprüfung sind gerade im Zusammenhang mit der Abwicklung von einheitlichen Verkäuferkonten angemessen in der Projektplanung zu berücksichtigen.
VC Magazin: Die Börse scheint seit Jahresbeginn kaum eine Option zu sein. Sehen Sie derzeit Chancen für IPOs?
Noreisch: Die Anzahl der IPOs 2022 ist tatsächlich sehr niedrig. An der Frankfurter Börse gab es im zweiten Quartal 2022 mit der SMG European Recovery SPAC SE und der EV Digital Invest AG gerade einmal zwei Börsengänge. Angesichts der Kursentwicklung der letzten Monate und der sich abzeichnenden Tendenz hin zu mittelfristig weiter steigenden Zinsen ist dies nicht verwunderlich; ich erwarte hier auch keine schnelle Besserung.
VC Magazin: Beim Thema Börse kommen auch die letztes Jahr gehypten SPACs wieder in Erinnerung, allerdings werden sie bislang nur wenig thematisiert. Spielen die Vehikel noch eine Rolle?
Noreisch: Wenn auch mit der SMG European Recovery SPAC SE tatsächlich eine SPAC-Transaktion im zweiten Quartal 2022 an der Frankfurter Börse realisiert wurde, ist es aktuell ruhiger geworden. Das hängt allerdings meines Erachtens ausschließlich mit dem allgemeinen Marktumfeld zusammen. Wenn sich die Stimmung wieder stabilisiert, wird man meines Erachtens auch wieder mehr SPAC-Transaktionen sehen. Ob sich die vermeintlichen Vorteile des vereinfachten Prozesses aber tatsächlich rechnen, wird sehr vom Einzelfall und den individuellen Konditionen abhängen und bedarf daher stets einer genauen Prüfung.
VC Magazin: Wer sind in Ihren Augen derzeit die aktivsten Investoren?
Noreisch: Die Aktivität der einzelnen Wagniskapitalinvestoren wird ja von vielen Vertretern Ihrer Zunft genauestens beobachtet und ausgewertet. Die Mandanten unserer Venture Capital-Praxisgruppe sind erfreulicherweise bislang unverändert stark aktiv. Wir haben in diesem Jahr eine unverändert hohe Anzahl an Seed- und Series A-Runden gesehen. Gerade Investoren mit öffentlich-rechtlichem Background, wie ein HTGF, Mittelständische Beteiligungsgesellschaften oder auch eine Bayern Kapital sind nach meiner Wahrnehmung von der aktuellen Marktentwicklung völlig unabhängig. Die Anzahl großvolumiger Runden scheint sich leicht zu reduzieren, und auch bei Exit-Transaktionen nehmen wir derzeit eine gewisse Zurückhaltung wahr.
VC Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.
Über den Interviewpartner:
Dr. Bernhard Noreisch ist Rechtsanwalt bei Lutz | Abel Rechtsanwalts PartG mbB und auf die Bereiche M&A, Venture Capital sowie Handels- und Gesellschaftsrecht spezialisiert. Zu seinen Mandanten zählen überwiegend mittelständische Unternehmen, nationale und internationale Investoren, Family Offices sowie junge Unternehmen, die er regelmäßig bei M&A-Transaktionen und Finanzierungsrunden begleitet.