VC Magazin: Was sind die zentralen Themen für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland in den nächsten drei Jahren?
Clement: Bildung, Wissenschaft und Forschung. Bildung ist das wichtigste, aber auch schwierigste Thema, denn es geht um Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Berufsausbildung wie Weiterbildung. Es geht um mehr Engagement und Fantasie, die in unser Bildungswesen investiert werden müssen, aber es geht natürlich auch um mehr Geld.
Das Problem beginnt schon damit, dass wir in Deutschland zu spät einschulen. Wir brauchen dringend eine – am besten bilinguale – vorschulische Erziehung und Bildung, an der zwingend alle Kinder teilnehmen. Für 29% der Kinder in Deutschland sind die Bildungsperspektiven risikobelastet, in Großstädten sind es sogar 40%. Deshalb brauchen wir Ganztagsschulen, kleinere Klassen und Lehrer, die sich um nichts anderes zu kümmern haben als um die ihnen anvertrauten Schüler. Spätestens drei Jahre vor Schulabschluss sollte die Vorbereitung aufs Berufsleben beginnen, am besten mithilfe von Experten aus den Betrieben. Und den Hochschulen tut die von Frau Schavan angestoßene Diskussion um Bundesuniversitäten gut. Wir brauchen jedenfalls wieder mehr Bundeskompetenz in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Die Föderalismusreform war ein Fehlschlag.
VC Magazin: Wie viel Verantwortung sehen Sie bei den Unternehmen selbst für die Bildung und Ausbildung?
Clement: Sie sollten sich an guten Beispielen orientieren, von denen es eine ganze Menge gibt. Ich denke etwa an eine Initiative aus der Hamburger Unternehmerschaft, die Hauptschüler aus der Schule ins Berufsleben begleitet. Meinem Wissen nach hat sie erreicht, dass bis zu 30% der Hamburger Hauptschüler nach der Schule direkt in eine Berufsausbildung kommen konnten. In Teilen des Ruhrgebiets erreichen derweil nicht wesentlich mehr als 5% auf Anhieb eine Ausbildung. Oder nehmen Sie ein Beispiel noch von ThyssenKrupp-Services: Das Unternehmen hatte ein Modell für Partnerschaften mit Schulen entwickelt, bei dem man sich sogar um ausreichend Lehrer in der Schule kümmern, in Physik- und Chemiesäle investieren und Jugendliche durch Experten aus dem Betrieb aufs Berufsleben vorbereiten sollte. Solche Projekte kann ich nur zur Nachahmung empfehlen. Es gilt, die Talente aller Kinder und Jugendlichen zu heben, zumal in einer sich demografisch so verändernden Gesellschaft wie der unseren.
VC Magazin: Was sind die großen Herausforderungen bei dem zweiten Thema Forschungsstandort Deutschland?
Clement: Das Schlimmste sind die grassierenden Zukunftsängste, während wir alles daran setzen müssten, unsere Innovationskräfte zu stärken. Nur zur Erinnerung: In Hessen ist über Jahre aufgrund politischen Widerstands, namentlich der Grünen, die Produktion von humanem Insulin durch die seinerzeitige Hoechst AG verhindert worden. Das hat die rote Gentechnologie hierzulande um Jahre zurückgeworfen, während die Hoechst AG unter dem Namen Aventis gen Frankreich zog. Die Begründung der Gegner war seinerzeit, genbehandeltes Insulin sei lebensbedrohlich. Grober Unfug, wie inzwischen die ganze Welt weiß. Heute gehen wir mit der grünen Gentechnologie aber ebenso um: So ist die Universität Hannover vor einiger Zeit für die Erforschung und Entwicklung von genbehandelten Erbsen nach Amerika gegangen, weil ihre Versuchsfelder bei uns von Zerstörung bedroht sind. Der Skeptizismus gegenüber neuen Technologien treibt Blüten, und das keineswegs nur in der Genforschung.
VC Magazin: Ist die Hoheit über Bildung und Forschung eher bei den Ländern oder beim Bund anzusiedeln?
Clement: Mein Vorschlag setzt anders an: Reduziert die Zahl der Länder auf sechs bis acht, macht sie einigermaßen gleich stark und gebt ihnen eigene steuerliche Verantwortung. Eine solche Länder-Neuordnung wäre der beste Weg. Wenn das aber nicht geht, wird man die Kompetenzen für Bildung, Wissenschaft und Forschung wieder auf den Bund zurückverlagern müssen. Wir dürfen uns jedenfalls die immer weiter voranschreitende Zergliederung des deutschen Schulwesens nicht länger bieten lassen, und wir können uns die mangelnde finanzielle Ausstattung von Bildung, Wissenschaft und Forschung nicht länger leisten. Und es braucht auch einen Verbund von deutschen und europäischen Elitehochschulen, was bundespolitisch sicher rascher und effizienter zuwege zu bringen ist. Es gilt, die vorhandenen Exzellenzen herauszufordern und zu bündeln. Der Anfang dazu ist bezeichnenderweise ja auch von der Bundespolitik gemacht worden – und eben leider nicht von den Ländern.
VC Magazin: Was sehen Sie für Unternehmen und Unternehmer als zentrale Themen in den nächsten zwei Jahren?
Clement: Unsere Unternehmen müssen sich auf den demografischen Wandel einstellen. Viel zu viele tun das noch nicht. Wir brauchen die älteren Arbeitnehmer. Professor Norbert Walter hat doch recht, wenn er sagt: „Ein Unternehmen, das einen 70-jährigen Ingenieur, der noch alle beisammen hat, entlässt, muss verrückt sein.“ In einer Befragung äußerte kürzlich ein Drittel der angesprochenen Pensionäre, dass sie am liebsten wieder „richtig arbeiten“ würden. Und der „War for Talents“ ist in Gang. Es gibt Institutionen, die sich mühen, Forscher zurückzuholen, vor allem aus Amerika, wohin sich viele orientiert hatten. Aber eine wirkliche Offenheit für die besten Köpfe aus anderen Ländern, die gibt es nicht. Bis 2020 werden wir zehn Millionen junge Leute unter 25 Jahren weniger haben als heute. Wir brauchen die qualifizierte Zuwanderung. Dazu gibt es wohl nichts Besseres als das schon vielzitierte Punktesystem der Kanadier, mit dem potenzielle Zuwanderer entsprechend ihren Qualifikationen bewertet werden.
VC Magazin: Was müssen wir bei der Unternehmensbesteuerung in den nächsten Jahren verändern, um besser aufgestellt zu sein?
Clement: Als Erstes sollten wir die Gewerbesteuer kippen. Sie schafft Bürokratie, ist äußerst konjunkturanfällig und für viele, vor allem kleinere bis mittelgroße Gemeinden wenig ertragreich. Besser wäre eine verfassungsfeste Finanzierung der Städte und Gemeinden über die Körperschafts- und Einkommensteuern mit kommunalem Hebesatzrecht. Doch das verhindern die großen Städte. An zweiter Stelle kommt in meinem Wunschkatalog eine nachdrückliche steuerliche Forschungsförderung, um unsere Innovationskräfte zu stimulieren.
VC Magazin: Zum Schluss: Nach Ihrem Austritt, wie ist Ihr Verhältnis heute zur SPD?
Clement: Die SPD kaut an ihrer Vergangenheit und tut alles, um die Erfolge der Agenda 2010 klein zu machen, statt sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Das ist ihr Problem. Und das ist eines meiner Probleme mit dieser großen, alten Partei.
VC Magazin: Vielen Dank für das Interview!
Georg von Stein
redaktion( at )vc-magazin.de
Zum Gesprächspartner
Wolfgang Clement ist heute Mitglied verschiedener Aufsichtsräte (z.B. RWE Power AG) und stellvertretender Vorsitzender des Frankfurter Zukunftsrates. Zuvor war er u.a. von 2002 bis 2005 Bundeswirtschaftsminister, von 1998 bis 2002 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und von 1986 bis 1989 Chefredakteur der Hamburger Morgenpost. Ende 2008 trat er aus der SPD aus.