Unternehmen kaufen, Lieferkette sichern
Zuerst spielten die Gründer deshalb mit dem Gedanken, eine eigene Rasierklingenfabrik zu bauen. Dafür wären aber ein hohes Investment und sehr erfahrene Mitarbeiter nötig gewesen, was unrealistisch gewesen wäre. Die zweite Idee war, eine eigene Produktionslinie bei einem etablierten Hersteller zu etablieren, also eine Firma in der Firma zu gründen. Die Amerikaner warfen ein Auge auf die deutsche Feintechnik. „Aber was, wenn wir in die falsche Richtung verkauft worden wären?“ erinnert sich Becker an die Bedenken aus den USA. So kam es schließlich zu einer anderen Lösung: Harry’s kaufte Feintechnik ganz einfach selbst und sicherte damit seine Lieferkette. Selbst für ein Gründerteam aus dem Start-up-Paradies USA war das ein ungewöhnlicher Schritt.
Welches Start-up investiert schon 100 Millionen Dollar noch vor seinem ersten Geburtstag? Das fragten sich Kommentatoren dies- und jenseits des Atlantiks.
Venture Capital-Geber sichern Deal ab
Doch Harry’s ist mit ordentlich Kapital ausgestattet. Von Risikokapitalgebern wie Tiger Global, Thrive Capital, Highland Capital und SV Angel hat das Start-up 122,5 Mio. USD Venture Capital erhalten. „Es ist klar, dass Harry’s in den ersten fünf Jahre nur Geld kosten wird. Deshalb braucht man Leute, denen das bewusst ist und die den Gründern erstmal einen Vertrauensvorschuss geben“, so Becker. Der Fonds von Tiger Global beispielsweise ist 82 Mrd. USD schwer. „In der Welt von Tiger Global sind wir ein sehr kleines Investment“, weiß Becker und erläutert weiter: „Die Finanzierung von Harry’s ist sehr breit aufgebaut. Es sind verschiedene Fonds beteiligt, außerdem auch Einzelpersonen wie Jon Winkelried, der frühere Vorstand von Goldman Sachs.“
Vertrauensvorschluss inklusive
Der Vertrauensvorschuss kommt nicht von ungefähr. Jeff Raider hat bereits mit einem anderen Start-up gezeigt, dass er Märkte aufmischen kann. Warby Parker, ein Online-Brillenversand, macht in diesem Jahr voraussichtlich 70 Mio. USD Umsatz – nur drei Jahre nach der Gründung. „Die Herstellungskosten für Brillen stehen in einem absurden Verhältnis zu den Verkaufspreisen, die Idee war also, billigere Brillen übers Internet anzubieten und so eine eigene Marke aufzubauen“, erklärt Becker – es handelt sich also um das gleiche Prinzip wie bei Harry’s. „Solche Erfolgsstories sind nur in den USA möglich“, sagt Rehman von Alpine Equity. „Da gibt es das Vertrauen, dass Start-ups den Großen wirklich einige Prozent Marktanteil abknöpfen können. In Deutschland und Österreich wäre man da skeptischer“, weiß der Investor.
(Fast) Business as usual
Auch für Feintechnik selbst ist die Übernahme eine Chance. „Harry’s will in den USA eine Marke etablieren, dadurch könnte auch Feintechnik dort Fuß fassen“, so Rehman von Alpine Equity. „Immerhin sind die USA der größte Markt weltweit.“ Das Tagesgeschäft laufe indes erst einmal weiter wie bisher: „Wir sind ein stetig wachsendes Unternehmen, haben allein in den letzten sechs Jahren unseren Umsatz verdoppelt“, sagt Becker von Feintechnik. „Wir sind nicht abhängig von Harry’s. Wir sind auch so profitabel. Harry’s wird in den nächsten fünf Jahren vielleicht 5% unseres Umsatzes abschöpfen, mehr nicht“, erwartet der Manager. Nach den ersten Wochen nach der Übernahme sind alle zufrieden. „Jeff und Andy stehen nicht nur mit Kapital zur Verfügung, sondern auch als Ratgeber. Wir werden nicht allein gelassen, es gibt einen engen Austausch“, freut sich Becker.
Beifall aus der Belegschaft
Und auch der erste Auftritt der neuen Besitzer vor der Belegschaft ist geglückt. „Andy hat den ganzen Vormittag einen Satz auf Deutsch auswendig gelernt. Mit aller Ernsthaftigkeit hat er ihn dann unseren 420 Leuten hier im Lager vorgetragen“, erzählt Heinz Dieter Becker. Der Satz lautete: Wir beide fühlen uns geehrt, ein Unternehmen wie Feintechnik als Partner gewonnen zu haben. Es gab tosenden Beifall.