Die Gründe sind vielfältig, sagt Uri Adoni, Partner der außerordentlich erfolgreichen Venture Capital-Gesellschaft JVP aus Jerusalem. Entscheidend sei aber eine Charaktereigenschaft, die viele Israelis, insbesondere die Unternehmer und Unternehmenskulturen prägen: Chutzpah (חצפה). Eine präzise Übersetzung liegt nicht vor. Es bedeute, so Uri, dass Menschen sich mit einer gewissen Kühnheit und Mut über Grenzen eines allgemein akzeptierten Verhaltenskodex hinwegsetzen, um Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen. Die oder der Einzelne packt selber zu, widerspricht und sucht nach besten Lösungen unabhängig von seiner Hierarchieebene und auch Zuständigkeit. Sie warten nicht auf Anweisungen, sondern handeln selbst kühn mit kreativem Wagemut. Dabei überschreiten sie auch mal eine Regel oder übergehen ihren Chef, um in der Sache voranzukommen.
Chutzpah ist eine Eigenschaft, die mir als ein echter Karriereblocker in Konzernen und Behörden, aber zugleich als Hochleistungskraftstoff für einen starken Motor in Start-ups erscheint. Eine Identifikation mit den Gesamtzielen des Unternehmens, eine hohe Eigenverantwortlichkeit und eine Mentalität des Zupackens und Mitdenkens von Management und Mitarbeitern können die Schlagkraft eines Unternehmens drastisch erhöhen. Dazu brauchen wir souveräne Manager und emanzipierte Mitarbeiter, die nicht lange nach Zuständigkeit und Verantwortung fragen, sondern Aufgaben übernehmen. Entscheidend kann Chutzpah in komplexen und zeitkritischen Situationen sein, in denen schnelle und unkonventionelle Lösungen auf unkonventionellen Wegen gefragt sind. Augenscheinlich wird diese Kultur beim Kopierer oder der Kaffeemaschine. Sind Papier oder Kaffeebohnen verbraucht, füllt der engagierte Mitarbeiter wieder auf, ohne nach dem Service dafür zu fragen oder sich als unfähig dafür zu erklären.
Von den Führungskräften erfordert Chutzpah Souveränität und Sachorientierung. Die Autorität basiert nicht auf der Kraft der Hierarchie. Die Aufgabe der Führungskraft ist es, klare Ziele zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass alle im Team gut arbeiten und sich engagieren können, d.h., notwendige Unterstützung und Anleitung zu leisten, Freiraum zu schaffen und, nicht zuletzt, zu respektieren und aktiv zuzuhören. Leitgedanke ist, dass das beste Argument und die höchste Kompetenz gewinnen.
Chutzpah beflügelt Start-ups und bietet ihnen den entscheidenden Leistungsvorteil gegenüber großen Organisationseinheiten. In vielen deutschen Start-ups und bei vielen Venture Capital-Investoren finden wir aber eher ein autoritäres Führungsverständnis und Mitarbeiter als Weisungsempfänger. Vorteilhaft dagegen wäre mehr „zielgerichtete, intelligente Unverschämtheit, mehr charmante Penetranz und unwiderstehliche Dreistigkeit“, eben mehr Chutzpah.