Die COVID-19-Pandemie hat seit März 2020 zu einem drastischen Lockdown geführt und die globale Wirtschaft in eine beispiellose Schockstarre versetzt. Die volkswirtschaftlichen Konsequenzen sind heute noch nicht vollends absehbar. Unter Top-Ökonomen besteht Konsens, dass Deutschland im laufenden Jahr in eine tiefe Rezession noch nie dagewesenen Ausmaßes fallen wird. Die Kursabstürze an den Aktienmärkten nehmen dramatische Umsatzrückgänge und Liquiditätsengpässe bei den Unternehmen vorweg.
In einem von Gewinnrückgängen, Unsicherheiten und Pessimismus geprägten Umfeld wundert es nicht, dass das Coronavirus in einigen Branchen das M&A-Geschäft stark infiziert und in den nächsten Monaten weitgehend zum Erliegen gebracht hat. Bei vielen laufenden M&A-Prozessen zeigen sich Kaufinteressenten stark zurückhaltend; Strategen sind in diesen Tagen kaum entscheidungsfähig. Zudem müssen sie in Zeiten, in denen „Cash King“ ist, ihr Pulver trocken halten, und Private Equity wird erst dann investieren, wenn das Feuer in den Portfoliounternehmen gelöscht ist, die Bankenfinanzierung steht und vor allem hinreichende Visibilität bei der künftigen Geschäftsentwicklung besteht. Zahlreiche Transaktionen verzögern sich daher beziehungsweise werden von Verkäuferseite bis zum Frühsommer auf Eis gelegt. Auf Basis unserer Erfahrungen aus der Finanzmarktkrise 2008/09 rechnen wir für Deutschland im ersten Halbjahr 2020 mit einem Einbruch der Transaktionsanzahl von über 50%.
Sobald die Unternehmen wieder störungsfrei produzieren und sich die Märkte weitgehend stabilisieren, dürfte sich das M&A-Sentiment jedoch schnell wieder drehen. Im Ergebnis erwarten wir hierzulande ab Juli 2020 nicht nur infolge von Nachholeffekten eine spürbare Belebung der Deal-Aktivität. Während in den letzten Jahren eine boomende Volkswirtschaft, hohe Kaufpreise, niedrige Zinsen, hoher Investitionsdruck und eine starke Euphorie den Markt prägten, stehen zukünftig andere Treiber für Fusionen und Übernahmen im Vordergrund.
Charakteristik des deutschen M&A-Markts nach Corona
– deutlicher Wandel vom Verkäufer- zum Käufermarkt
– defensive Deals und Notverkäufe stehen im Vordergrund
– strategisch motivierte Deals nur in bestimmten Branchen
– vermehrte Verkäufe von Randaktivitäten bei Großkonzernen
– Zunahme von Transaktionen mit Distressed-Charakter
– stärkere Spreizung bei Bewertungsmultiplikatoren
– feindliche Übernahmen bei unterbewerteten börsennotierten AGs
Gewinnrückgänge und verhaltene wirtschaftliche Aussichten zwingen viele mittelgroße Unternehmen zu einem Verkauf an einen größeren oder finanzkräftigen Partner. Großkonzerne müssen ihre Portfolioarrondierungen mit Priorität angehen, um Liquidität zu generieren und sich besser auf ihr Kerngeschäft konzentrieren zu können. Eine Sonderkonjunktur bei M&A wird die stark unter Druck geratene Automobilindustrie erleben. Umgekehrt werden allerdings auch einige Branchen gestärkt aus der Corona-Krise herausgehen. So werden etwa in den Bereichen Healthcare, Biotechnologie, IT oder E-Commerce weiterhin strategisch motivierte, hoch bewertete Deals stattfinden.
Gerade das deutsche Mid Cap-Segment dürfte in den kommenden 18 Monaten eine rege Aktivität aufweisen. In M&A-Prozessen werden wir wahrscheinlich kleinere Bieterfelder und vorsichtigere Kaufinteressenten sehen, die das Current Trading genau unter die Lupe nehmen und kaum auf einen schnellen Abschluss drängen. Zur Überbrückung von Bewertungsdifferenzen und Absicherung von Risiken werden in Kaufverträgen vermehrt Earn-out- sowie MAC-Klauseln zur Anwendung kommen.
Dr. Michael Drill ist Vorstandsvorsitzender der Lincoln International AG, einer globalen M&A-Investmentbank mit weltweit über 600 Mitarbeitern. Lincoln International verfügt über 22 eigene Büros in den zehn größten Volkswirtschaften der Welt. 2019 hat Lincoln International weltweit über 200 und in Deutschland 27 M&A-Transaktionen erfolgreich abgeschlossen.