Bereits seit einiger Zeit gilt künstliche Intelligenz (KI) als Zukunftsfeld. Doch kaum ein Thema spaltet derart die Gemüter: Während die einen die zu erwartenden Vorzüge der Technologie preisen, mahnen die anderen vor möglichen negativen Folgen, wenn der Algorithmus selbst Entscheidungen trifft.
VC Magazin: Wohin wird sich die künstliche Intelligenz entwickeln?
Feindt: Aktuell wird der Einsatz von KI stark von „Narrow AI“ geprägt. Durch sie können klar definierte Probleme auf Basis extrem vieler Daten und guter Vorhersagen gelöst werden. Das Spektrum an Einsatzgebieten reicht von Bilderkennung, Strategiespielen und automatischer Übersetzung bis zur Entscheidungsautomatisierung in der Wirtschaft und Unterstützung in der Grundlagenforschung. Damit Menschen aber eine KI akzeptieren, muss sie erklärbar sein – Menschen mögen undurchsichtige Blackbox-Algorithmen nicht. Wir können beispielsweise die Faktoren, aufgrund derer eine KI sagt, dass eine Nachfrage höher ausfallen wird, mit einer für Menschen nachvollziehbaren Logik erklären.
VC Magazin: Wird KI bald auch eine Art menschliche Intelligenz erreichen?
Feindt: Die große Zukunftsvision ist die Entwicklung einer „General AI“, die selbst entscheiden kann, welches Problem sie als nächstes lösen will, und das dann selbständig tut. Prognosen zufolge wird das in 30 bis 150 Jahren möglich sein, wenn nach dem mooreschen Gesetz Rechenleistung und Speicherkapazität groß genug sind. Diese Form der KI wird wie ein Mensch eigene, freie Entscheidungen treffen und eventuell sogar ein Bewusstsein entwickeln können.
VC Magazin: Wie kommt KI in Supply Chain-Management und Enterprise Ressource Planning zum Einsatz?
Feindt: Sie kommt dort zum Einsatz, wo Massenentscheidungen und immer wiederkehrende Entscheidungen getroffen werden. Im Bereich Supply Chain können das bis zu 20 Millionen Entscheidungen pro Tag sein, zum Beispiel bei der täglichen Nachbestellung von Zehntausenden Einzelartikeln in Hunderten Filialen und den damit zusammenhängenden Produktions- und Personalplänen, Pricing, und so weiter. Die KI kann für jeden einzelnen Artikel Hunderte entscheidungsrelevante Informationen analysieren, zum Beispiel in der Lebensmittellogistik zentrale Faktoren für die Haltbarkeit – die ja bei verderblichem Sushi komplett anders sind als bei lange haltbarem Wein – oder auch den Einfluss von Wettervorhersagen auf das Kaufverhalten. Dafür gibt es viele weitere Beispiele. Durch ihre komplexen Analysen optimiert eine KI die Entscheidungen für wichtige Bereiche, etwa die optimale Disposition des Weins oder der Sushizutaten oder eine effizientere Gestaltung der Produktionspläne. Im Ergebnis werden Lebensmittel nicht verschwendet und gleichzeitig so viel produziert, dass der Bestand in den Geschäften vor Ort ausreicht. Durch KI können Prognosen und Optimierung des Warenbestands vollständig automatisiert werden.
VC Magazin: Wie genau funktioniert das?
Feindt: Wir bei Blue Yonder arbeiten mit patentierten Algorithmen, die auf Erklärbarkeit setzen. Dafür werden Wahrscheinlichkeiten für jede mögliche Zukunft berechnet, auch unter Einbezug von Risiken. Nehmen wir das Beispiel Fleischproduktion: Die KI errechnet aus der Vergangenheit anhand von 200 Variablen wie Wetterkonditionen, Preisen oder dem durch Corona veränderten Konsumentenverhalten die entscheidungsrelevanten Faktoren und Wechselwirkungen. Auf dieser Basis prognostiziert sie dann das Kaufverhalten für jeden kommenden Tag, also auch, wie viele tierische Produkte wo gebraucht beziehungsweise verkauft werden. Als Konsequenz müssen viel weniger Tiere geschlachtet werden. So gäbe es kaum noch zu viel oder zu wenig Warenbestand vor Ort.
VC Magazin: Welche Investoren sind beim Thema KI für Supply Chain-Management und Enterprise Ressource Planning tätig?
Feindt: Das Spektrum der Investoren reicht von Business Angels über Venture Capital-Unternehmen und Private Equity-Fonds bis zu den größten Unternehmen der Welt. Die größten Investoren bei Blue Yonder sind zurzeit Blackstone und New Mountain Capital. Gerade hat Panasonic eine 20%-Beteiligung zu einer Unternehmensbewertung von 5,5 Mrd. USD erworben. Ein Grund hierfür ist, dass die in der Logistik eingesetzten Sensoren von Panasonic mit der Lösung von Blue Yonder ein perfekt ineinandergreifendes System bilden.
VC Magazin: In welchen Bereichen ist der KI-Einsatz besonders vielversprechend, in welchen Bereichen hingegen weniger?
Feindt: KI bietet dort Vorteile, wo man statistisch datenbasiert Zusammenhänge analysieren kann und wo viele unabhängige Entscheidungen getroffen werden. Das reicht von der Bilderkennung bis zur Risikoüberwachung der Lieferkette. Dabei können Algorithmen selbstständig erkennen, dass vor Kurzem getroffene Entscheidungen oder Prognosen noch nicht genau genug waren, und sie dann optimieren. Ein Beispiel hierfür sind die kürzlich erfolgten Hamsterkäufe, die durch Unsicherheit in der Bevölkerung zu Beginn der Corona-Pandemie ausgelöst wurden. Zunächst waren sie nicht erklärbar. Unsere Algorithmen konnten die Informationen dazu sehr schnell konsolidieren, Prognosen bezüglich des Kaufverhaltens anpassen und bessere Bedarfsanalysen erstellen. Ein weiteres Beispiel ist der Abverkauf der letzten Sommerkollektion. Als die Modeläden wieder öffnen durften, neigten viele Händler dazu, die Ware völlig unreflektiert zu reduzieren. Dadurch wurde viel Umsatzpotential verschenkt, denn anhand von KI wären individuelle Lösungen und somit eine intelligentere Preispolitik umsetzbar gewesen. Schlecht einsetzbar ist KI hingegen bei singulären, also „Einmal-im-Leben-Entscheidungen“, etwa bei Entscheidungen wie „Soll ich diese Frau heiraten?“
VC Magazin: Wie gut ist der Standort Deutschland beim Thema künstliche Intelligenz aufgestellt?
Feindt: In den USA findet man in Bezug auf Themen wie KI und Cloud Computing eine größere Offenheit als in Europa und im Speziellen in Deutschland, wo in der Öffentlichkeit eine große Skepsis gegenüber Datenverarbeitung herrscht. KI-Anwendungen werden hierzulande oft kritisch gesehen; Datenschutz wird aus historischen Gründen besonders groß geschrieben. In Unternehmen dagegen hängt der Einsatz von KI vor allem von der internen Kultur und Fortschrittsdenken ab. Die deutschen Flaggschiffe der Wirtschaft – der Maschinenbau und die Automobilindustrie – werden gerade von Unternehmen überholt, die auf KI und Datenverarbeitung setzen: Denn künstliche Intelligenz ist auch dort der Katalysator des Wirtschaftswachstums. Wenn Deutschland nicht abgehängt werden möchte, ist dringend ein Umdenken erforderlich. Wir sollten die führenden Unternehmen der Welt im Bereich KI – wie Google, Microsoft, Amazon oder Tesla – unter die Lupe nehmen und von ihnen lernen. Die intellektuelle Power haben wir, aber MINT-Fächer müssen besser gefördert und auch in der Öffentlichkeit wieder größeres Ansehen genießen. Dazu zählt auch die Darstellung in den Medien. Besonders diejenigen jungen Leute, die sich sowohl mit KI als auch mit der Businessseite auskennen, werden in den kommenden Jahren gefragt sein. Das Silicon Valley ist uns diesbezüglich noch deutlich voraus.
VC Magazin: Was werden zukünftig die treibenden „KI-Entwicklungen“ bei Supply Chain-Management und Enterprise Ressource Planning sein?
Feindt: Ich sehe hier vier wichtige Entwicklungen. Erstens werden Unternehmen sich horizontal optimieren und Informationssilos entlang der gesamten Wertschöpfungskette aufbrechen, um so die Zusammenarbeit paralleler Systeme zu verbessern. Zweitens wird Reinforcement Learning, also das selbstständige Weiterentwickeln von Algorithmen, an Relevanz gewinnen. Drittens wird man Kausalitäten auf einer besseren Datenbasis als in der Vergangenheit bestimmen und somit die Entscheidungspolitik deutlich optimieren; viertens schließlich wird Quantencomputing immer wichtiger werden, vor allem, um Probleme zu lösen, die bisher aufgrund zu hoher Komplexität unlösbar sind. Das ist aktuell allerdings noch Zukunftsmusik.
VC Magazin: Herr Prof. Dr. Feindt, vielen Dank für das Interview.
Prof. Dr. Michael Feindt ist Gründer und Chief Scientist von Blue Yonder, einem weltweit tätigen Unternehmen für KI-Lösungen im Handel. Über seine Forschungstätigkeit an den größten Elementarteilchenbeschleunigern der Welt entwickelte er den NeuroBayes-Algorithmus, der heute in Handelsunternehmen zur Automatisierung von operativen Entscheidungen eingesetzt wird. Blue Yonder wurde unter anderem mit dem Deutschen Innovationspreis ausgezeichnet.