Mittlerweile steht fest: Auch Corona kann dem Standort Bayern als Hotspot für Start-ups nichts anhaben. Attraktiv macht die Region neben der gewachsenen Wirtschaftsstruktur und dem breiten Angebot staatlicher Förderung auch die starke Gründungsorientierung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Zudem schätzt die Szene die hohe Lebensqualität, nicht zuletzt als Argument im globalen Wettbewerb um Talente. Leuchtturmwirkung – auch international – entfalten außerdem die Erfolge von Start-up-Größen wie Isar Aerospace, FlixMobility und Celonis.
Die Pandemie mit all ihren Schrecken ist noch nicht ganz ausgestanden, der Dämpfer im Marktgeschehen 2020 noch bei vielen im Hinterkopf. Der Corona-Effekt des Jahres 2021 allerdings läuft im Bereich Venture Capital in die umgekehrte Richtung: Gemäß Startup-Barometer von EY konnten Start-ups in Deutschland zum Halbjahr mit 7,6 Mrd. EUR einen Finanzierungsrekord verzeichnen, der bereits jetzt das gesamte Vorjahr (5,3 Mrd. EUR) und den bisherigen Höchststand aus 2019 (6,2 Mrd. EUR) übertrifft. Dabei ist es in Bayern gelungen, den Status als zweitwichtigster deutscher Standort der Beteiligungsbranche weiter auszubauen: Hier ansässige innovative Jungunternehmen lagen zum Halbjahr sowohl beim Investitionsvolumen (2,5 Mrd. EUR) als auch bei der Deal-Zahl (120) unangefochten auf Platz zwei nach Berlin, weit über den Vorjahreswerten und weit vor anderen deutschen Standorten. Was die Attraktivität der Region ausmacht? Peter Pauli, Sprecher der Geschäftsführung der BayBG Bayerische Beteiligungsgesellschaft, erklärt: „In Bayern ist über die Jahre ein außergewöhnliches Ökosystem entstanden, wo Start-ups, Industrie (DAX-Konzerne, große Mittelständler), Spitzenforschung (Technische Universität München (TUM), Ludwig-Maximilians-Universität (LMU), Helmholtz, Fraunhofer, Max-Planck), Techfirmen (Apple, Amazon, Google, Microsoft, SAP), Venture Capital-Gesellschaften und Business Angels produktiv zusammentreffen. Das bringt vielfältige Gründungen hervor und schafft branchenübergreifend Innovationen.“ Dabei ist der Markt stets in Bewegung. Pauli: „Neben der zunehmenden Bedeutung von ‚Environment & Social Governance‘ (ESG) für Unternehmen und Investoren ist zu beobachten, dass Finanzierungsrunden größer werden und Unternehmensbewertungen steigen. Vor ein paar Jahren galten Series A-Runden mit 3 Mio. EUR als Erfolg, aktuell sehen wir häufiger
Runden mit 5 Mio. bis 10 Mio. EUR. Im Markt ist reichlich Liquidität. Bei anhaltendem Niedrigzinsumfeld investieren aktuell auch Player jenseits der klassischen Venture Capital-Gesellschaften – beispielsweise Private Equity-Investoren im Later Stage-Bereich und Family Offices – in disruptive Geschäftsmodelle und Technologien.“
Gezielte staatliche Förderung verleiht Flügel
Darüber hinaus profitiert der Gründungs- und Investitionsstandort Bayern von gezielten Initiativen des bayerischen Staats. Das Angebot an Einzelförderung ist vielfältig und reicht vom Bayerischen Businessplan Wettbewerb (BayStartUp) über die Bayerischen Technologie- und Gründerzentren bis hin zum neu aufgelegten ScaleUp-Fonds des Freistaats, der insgesamt 250 Mio. EUR für wachstumsorientierte Start-ups bereithält. Auch betreibt die Landesregierung seit Langem Strukturförderung: So bündelt beispielsweise das vom Bayerischen Wirtschaftsministerium initiierte Cluster Biotechnology Bavaria (BioM) die Stärken der Standorte von München über Regensburg bis nach Würzburg und vernetzt deren Unternehmen und Forschungsinstitute landesweit. Auch regional entfaltet solch ein Cluster hohe Innovationskraft, wie die BioRegio Regensburg in Ostbayern beweist. Seit ihrem Start 1999 hat sie sich zur zweitgrößten Biotechnologieregion in Bayern entwickelt. Aktuell forschen dort über 60 Firmen und mehr als 4.000 Mitarbeiter in Bereichen wie Immunologie und Onkologie, aber auch daran, die globalen Trends Digitalisierung und künstliche Intelligenz für Diagnostik, Therapie und Gesundheitswirtschaft nutzbar zu machen. Die BioPark Regensburg GmbH ist die Managementeinheit des Clusters, ihr Geschäftsführer – Dr. Thomas Diefenthal – seit Beginn dabei: „Die hier in den letzten Jahrzehnten massiv geförderte Infrastruktur und der nachhaltige Aufbau von Netzwerken hat in allen Branchen am Standort einen Innovationsschub ausgelöst. Dank des konsequenten Ausbaus der globalen Aktivitäten durch die Landesinitiativen Bayern International und Invest in Bavaria gelang zudem die für uns so wichtige internationale Sichtbarkeit.“
Investiert wurden insgesamt 661 Mio. EUR, davon 154 Mio. EUR Venture Capital und 180 Mio. EUR Fördermittel. Bisher konnten 64 Gründerteams betreut werden, darunter so erfolgreiche wie die Firma GeneArt, heute Teil des US-Unternehmens Thermo Fisher Scientific mit 310 Mitarbeitern am Standort. Dr. Diefenthal: „Hilfreich war auch die parteiübergreifende konsequente Wirtschaftsförderung der Stadt Regensburg über mehrere Wahlperioden. Im Ergebnis gibt es heute zehn Clusterinitiativen und zwei Gründerzentren. Das ist für eine Stadt dieser Größe (166.000 Einwohner) im bundesweiten Vergleich einzigartig.“
Wichtige Unterstützung bieten Hochschulen und Forschungseinrichtungen
Wettbewerbsvorteile dank frühzeitigem „entrepreneurial sparring“ sieht Picus Capital, die von Alexander Samwer finanzierte Venture Capital-Gesellschaft mit Hauptsitz in München. Das 2015 gegründete Unternehmen investiert global hauptsächlich in Pre-Seed-, Seed- und Series A-Runden und fokussiert dabei Branchen, in denen Software und Technologie einen signifikanten Mehrwert schaffen. Etwa 10% der bisherigen Investments sind in bayerische Start-ups geflossen. „Wir beobachten in Bayern eine über die Jahre konstant ansteigende Quantität und Qualität von Start-ups“, berichtet Raphael Mukomilow, der jüngst als Partner und Head of Growth bei Picus eingestiegen ist und die Venture Capital-Szene der Region mit frischem Blick wahrnimmt. „Das ist auch ein Verdienst der exzellenten Entrepreneurausbildung im dichten Netzwerk bayerischer Bildungs- und Forschungseinrichtungen mit all ihren Verbindungen zu Industrie und Politik. Programme wie Manage and More (TUM) oder die Arbeit im
Center for Digital Technology and Management (LMU/TUM) – so wächst unternehmerisches Denken, so entstehen Firmen und komplexe Produkte mit tiefer Wertschöpfungsproposition. Davon können wir in Deutschland mehr brauchen!“ Trotzdem sieht Mukomilow auch Verbesserungspotenzial: „Selbst in Bayern denken Gründer oft nicht frühzeitig groß genug. Ein gutes Produkt sollte über Grenzen, Kulturen und regulatorische Anforderungen hinweg funktionieren. Skalierbarkeit und Internationalität dürfen nicht als Aufgabe für später zurückgestellt werden. Das beginnt schon beim Teamaufbau – nur mit einem internationalen und diversen Team lassen sich globale Lösungen erarbeiten.“ Seiner Meinung nach ein klarer Pluspunkt in Bayern: die anerkannt hohe Lebensqualität, die ausreichend Talent in die Region zieht.
Positivbeispiele leuchten auch international
Die hohe Qualität Bayerns als Nährboden für Start-ups belegen – mit internationaler Strahlkraft – auch die Firmen, die es von dort aus bereits im großen Stil geschafft haben. So konnte die erst 2018 gegründete Isar Aerospace gerade eine Series B-Finanzierung über 165 Mio. USD vermelden. Das als Ausgründung der TUM entstandene Space-Start-up stärkt damit seine Position als Europas führender privater Startdienstanbieter: Seine Trägerrakete „Spectrum“, die Satelliten bis 1.000 Kilogramm in niedrige Erdorbits transportieren soll, bietet effizienten und kostengünstigen Zugang zum Weltraum. Der erste Testflug ist für 2022 vorgesehen. Ein weiteres prominentes Positivbeispiel ist die 2012 von Studienfreunden aus Nürnberg gegründete FlixMobility. Sie hat zuletzt 650 Mio. USD eingesammelt. Fuhr 2013 gerade einmal der erste FlixBus auf deutschen Straßen, so ist das Unternehmen in Europa mittlerweile Marktführer und nach eigenen Angaben in den USA bereits zweitgrößter Anbieter im Fernbusmarkt, die globale Expansion fest im Blick. Leuchtturmwirkung hat auch die Geschichte von Celonis, deren Software eine Art Röntgenblick auf Geschäftsprozesse und -systeme bietet: Nur zehn Jahre nach Gründung
ist das Münchner Unternehmen globaler Marktführer in Sachen Process Mining und Execution Management. Seit der letzten Finanzierungsrunde über 1 Mrd. USD und einem sich daraus ergebenden Unternehmenswert von mehr als 10 Mrd. USD gilt Celonis zudem als erstes deutsches Decacorn. „Die drei Celonis-Gründer haben sich in der studentischen Unternehmensberatung Academy Consult München e.V. kennengelernt. Ihr erstes Projekt für den Bayerischen Rundfunk war ausschlaggebend dafür, dass sie Celonis gegründet haben“, erinnert sich Remy A. Lazarovici, der erste angestellte Mitarbeiter der Firma anno 2012. Heute ist er ihr Vertriebsleiter für die Region EMEA. „Start-ups aus Bayern sind auch deshalb meist gut aufgestellt und treffen auf gute Voraussetzungen, weil alle wichtigen Impulsgeber und auch potenzielle Kunden hier versammelt sind. Dabei hat sich seit unseren Anfängen in der Region einiges getan: Heute gibt es mehr Netzwerke, Frühphasenfonds, Hilfe bei der Investorensuche. Stark sind insbesondere die Bereiche Software, Mobilität und Fintech. Es ist schön zu beobachten, wie sich der Standort Bayern in den letzten Jahren entwickelt hat und damit noch stärker in den Fokus in- und ausländischer Investoren rückt!“