Bildnachweis: © Verband Die Familienunternehmer.
Manchen erscheint die Wirtschaftslandschaft in Deutschland dreigeteilt: hier die großen (DAX-)Kapitalgesellschaften, dort der Mittelstand und schließlich das Ökosystem aus Start-ups. Diese Wahrnehmung ist jedoch sehr holzschnittartig, denn eine trennscharfe Unterscheidung ist tatsächlich nicht nur schwierig, sondern die Unternehmen können auch eng miteinander verbunden sein.
So ist beispielsweise SAP jüngst beim Prozessoptimierer-Start-up Signavio eingestiegen, das Familienunternehmen Dr. Oetker sieht Zukunftschancen bei Flaschenpost.de, und der familiengeführte Heizungsbauer Viessmann betreibt in Berlin mit dem „Maschinenraum“ eine Matchingplattform zur digitalen Transformation. Insbesondere der Trend zu Kooperationen zwischen innovativen Gründungen und dem Mittelstand ist ungebrochen. In der Studie „Mittelstand meets Startup 21“ hat das RKW Kompetenzzentrum festgestellt, dass der Anteil unter den untersuchten Unternehmen, die mit Start-ups kooperieren, bei rund 36% liegt. Der Mittelstand kann also offenbar von Start-ups lernen, und Start-ups können von der Erfahrung des Mittelstands profitieren.
Der Kodak-Moment: Vorteile der Kooperation
Der „Kodak-Moment“ – als der damalige Marktführer fotografischer Ausrüstung in der aufkommenden Digitalfotografie keine ernsthafte Gefahr für das eigene Geschäftsmodell gesehen hat – sollte als mahnendes Beispiel dienen. Etablierte Unternehmen müssen deshalb ständig ihre Geschäftsideen auf den Prüfstand stellen und bei Bedarf anpassen, selbst oder gerade zum Zeitpunkt des größten Erfolgs. Wie beim Häuten einer Zwiebel können sich Unternehmer dadurch neu erfinden, ohne ihre Existenz zu gefährden – sich durch das Abschälen alter Häute erneuern. Insbesondere die Kooperation mit Start-ups kann diese Erneuerung befördern. Auf drei Ebenen sind Kooperationsgewinne zu identifizieren.
Technologische Ebene
Zwar ist Deutschland im Bereich der Grundlagenforschung stark aufgestellt, es besteht jedoch Nachholbedarf in der globalen Wertschöpfung der Digitalökonomie – ein europäisches Google oder Amazon ist bislang nicht in Sicht. Eine Zusammenarbeit junger Unternehmer – die vielleicht gerade einer Universitätsausgründung entsprungen sind – mit einem Mittelständler würde den Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft fördern. Damit wäre ein wesentlicher Schwachpunkt der deutschen Innovationslandschaft adressiert und könnte helfen, das „MP3-Trauma“ zu überwinden: Wie damals beim Musikkompressionsstandard erarbeiten deutsche Forscher sehr oft innovative Lösungen, die anschließende wirtschaftliche Verwertung gelingt dann aber weniger erfolgreich – das Geschäft macht jemand anderes auf der Welt. Insbesondere im B2B-Bereich der künstlichen Intelligenz bieten sich Chancen, da die starke industrielle Basis in Deutschland gegenwärtig die Transformation zur Industrie 4.0. durchläuft. Während der Mittelstand durch Kooperationen Zugriff auf neue Technologieentwicklungen erlangt, erhalten Start-ups die Chance, ihre Gründungsidee in ein funktionierendes Geschäftsmodell zu überführen und größer zu skalieren.
Cultural Fit
Ein weiterer Vorteil ist auf der Ebene der Organisationsstrukturen auszumachen. Eine erfolgreiche digitale Transformation ist nicht eine rein technologische Frage, sondern muss auch mit einem veränderten Verständnis von Arbeitsweisen und Führungsmustern einhergehen. Auch erfordert sie die Bereitschaft der Angestellten zur Fort- und Weiterbildung. Dabei sind die Start-up-typischen agilen Arbeitsmethoden mit flachen Hierarchien und Mobile Working für den Mittelstand nicht zwingend ein Kulturschock. Vielmehr können die gelebten Werte der Familienunternehmen, wie Nachhaltigkeit, persönliche Haftung, Selbstverantwortung und Wertschätzung jedes Mitarbeiters, handlungsleitend für junge – in ihrer Chefrolle vielleicht noch unerfahrene – Gründer sein. Somit können sich beide Welten gegenseitig bereichern und dadurch weiterentwickeln.
Tüftler und Bastler
Zu guter Letzt bieten Kooperationen Chancen bei der Fortentwicklung von Geschäftsfeldern. Deutsche Hidden Champions bewähren sich oftmals seit Jahrzehnten in ihrer Nische. Sie sind hoch spezialisiert, global wettbewerbsfähig und perfektionieren laufend ihre Produkte und Dienstleistungen. Angesichts einer sich rasant wandelnden Bedingungslage müssen Unternehmen nun zunehmend neue Geschäftsfelder erschließen: Entweder drohen bisherige Bereiche ganz wegzufallen (etwa bei der Produktion rund um den Verbrennungsmotor) oder sich grundlegend zu verändern (beispielsweise die Industrieautomation). Antworten auf solche Herausforderungen liegen oft nicht allein in sukzessiven Prozessanpassungen, sondern ebenso in disruptiven Schritten. Um eine solche Perspektive einnehmen zu können, ist es hilfreich, von außen neue Impulse und frische Anregungen zu erhalten. Verstärkt werden kann dieser Effekt durch die Einbindung von qualifiziertem Personal, das jedoch aufgrund des harten Wettbewerbs um Fachkräfte für mittelständische Betriebe nicht immer leicht zu gewinnen ist. Hier hilft die Zusammenarbeit mit Start-ups weiter. Im Gegenzug erhalten diese durch eine solche Zusammenarbeit Einblick in die Erfolgsfaktoren des exportorientierten Mittelstands und Zugriff auf das ausdifferenzierte Netzwerk entlang der jeweiligen Wertschöpfungskette.
Neue Gründerzeit
Der Austausch zwischen dem Mittelstand und Start-ups hat somit enormes Potenzial für den Standort Deutschland. Bereits jetzt suchen zahlreiche Familienunternehmer diese Zusammenarbeit mit jungen Gründern. Zukünftig werden solche Kooperationen noch weiter zunehmen (müssen) und könnten zum Nukleus einer neuen Gründerzeit, eines digitalen Wirtschaftswunders, werden.
Zum Autor: Reinhold von Eben-Worlée ist Präsident des Verbands Die Familienunternehmer und geschäftsführender Gesellschafter der Worlée-Gruppe, eines Hamburger Familienunternehmens in mittlerweile fünfter Generation.