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Die vergangenen zwei Jahre Pandemie haben deutlich die Grenzen des Gesundheitssystems aufgezeigt. Glücklicherweise ist die oftmals nahestehende Überlastung ausgeblieben, uns wurde jedoch häufig vor Augen geführt, dass unser Gesundheitssystem zwar robust, aber bei weitem nicht ausreichend digitalisiert ist. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Investitionen in innovative Geschäftsmodelle im Gesundheitsbereich weltweit Rekordhöhen erreicht hat.
Zwar gibt es recht wenig Zahlen für den deutschen Raum, man sieht aber, dass sich laut einer Studie der Silicon Valley Bank europaweit das Investitionsvolumen bereits innerhalb der ersten drei Quartale auf 3.3 Mrd. EUR verdoppelt hat. In fast jedem Land herrscht ein hoher Innovationsdruck, um die aufgedeckten Mängel zu beheben. Auch in Deutschland gibt es eine wahrnehmbare Aufbruchsstimmung, welche in den vorherigen Jahren in dieser Form nicht stattfand. Zum einen werden die Schwachstellen auch für die Patienten sichtbar was dazu führt, dass laut einer Bitcom Umfrage rund 70% der Befragten attestieren, dass Deutschland in Sachen Digitalisierung zurückliegt. Zum anderen wurden notgedrungen längst überfällige regulatorische Änderungen beschleunigt umgesetzt. Besonders hervorzuheben sind hier das Digitale Versorgungsgesetz, oder dessen Ergänzung, das Digitale Versorgung und Pflege Modernisierungsgesetz. Diese neuen Gesetze zielen unter anderem darauf ab, nachweislich wirksame digitale Behandlungsmethoden schnell und unbürokratisch in die Versorgung aufzunehmen (Stichwort Digitale Gesundheitsanwendungen, kurz DiGa) oder auch die infrastrukturellen Voraussetzungen für die elektronische Patientenakte oder das eRezept zu schaffen. Darüber hinaus etabliert sich auch bei der Ärzteschaft die Akzeptanz neuer Behandlungsmethoden, wie beispielsweise die Telemedizin durch den Wegfall des Fernbehandlungsverbots bereits vor der Pandemie. Gemeinsam bilden diese Initiativen die Basis für das Aufstreben neuer patientenorientierter Geschäftsmodelle im Gesundheitsbereich. Gepaart mit der riesigen Marktgröße allein in Deutschland mit rund 425 Mrd. EUR Gesundheitsausgaben in 2020, ist die Gesundheitsbranche ein sehr interessanter Sektor für Venture Capital-Investoren.
Trends im Gesundheitsbereich – Patienten im Mittelpunkt
In den vergangenen Jahren haben sich dabei verschiedene Bereiche herauskristallisiert, welche für Investoren überaus attraktiv sein können. Dabei spielen unserer Auffassung nach insbesondere auf Patienten ausgerichtete Modelle eine tragende Rolle. Digitale Lösungen können nur einen nachhaltigen Beitrag zum Gesundheitssystem leisten, wenn diese aus Patientenbrille gedacht und auf die spezifischen Patientengruppen ausgerichtet sind. Hier sehen wir verschiedene Bereiche, welche in den kommenden Jahren die Gesundheitsversorgung in Deutschland maßgeblich verbessern können:
Digitale Hausärzte
Um die Versorgung langfristig mit digitalen Mitteln zu unterstützen, führt kein Weg an den rund 60.000 niedergelassenen Ärzten vorbei. Sie sind die erste Kontaktstelle für potenziell erkrankte Patienten und haben eine tragende Rolle in unserem Gesundheitssystem. Aktuell ist die Patientenerfahrung hier jedoch stark analog. Zwar gab es in den vergangenen Jahren erste Bestrebungen, die administrativen Tätigkeiten wie etwa die Terminbuchung (z.B. Doctolib) oder die Behandlungswege (z.B. kry, Teleclinic) zu digitalisieren. Viele digitale Anwendungsfälle in der Diagnostik, Behandlung oder Therapie bleiben jedoch aus unterschiedlichen Gründen ungenutzt. Ähnlich wie in den USA gibt es jedoch erste Start-ups, welche sich dieser Problematik stellen und die Allgemeinarztpraxis der Zukunft aus der Patientenbrille heraus kreieren. Ein Vorreiter auf dem deutschen Markt ist dabei Avi Medical. Das Münchner Unternehmen betreibt eine Vielzahl an Hausarztpraxen in Deutschland. Neben der digitalen Abwicklung der administrativen Prozesse (z.B. Terminbuchung, Datenerfassung, Abrechnung, welche Ärzten mehr Zeit für die Patientenversorgung verschafft), fokussiert sich das Unternehmen darauf, jeden Behandlungsschritt mit digitalen Hilfsmitteln zu verbessern. So werden die Ärzte bestmöglich mit umfassenden Informationen auf die Behandlung vorbereitet, um ein möglichst holistisches Bild auf den Patienten zu erhalten. Durch das digitale Backbone der Praxis wird Patienten auch der Zugang zu wirksamen digitalen Gesundheitsanwendungen einfacher ermöglicht. Es ist zu erwarten, dass sich dieses digitale Behandlungskonzept mittelfristig als Standard in der Hausarztversorgung durchsetzen wird und damit die Basis für die digital-unterstützte Patientenversorgung bilden wird.
Telemedizin 3.0
Die Telemedizin hat in den letzten Jahren zunehmend an Relevanz gewonnen. War die erste Generation der Telemedizin noch geprägt durch die telefonische Beratung von (Bestands-) Patienten durch den Arzt, eröffnete der Wegfall des Fernbehandlungsverbots neue telemedizinische Angebote der zweiten Generation der Telemedizin: Die Nutzung von Videotelefonie zur Behandlung von (Neu-)Patienten. Durch die Pandemie wurde nun zwar erkannt, dass die Videotelefonie einen Beitrag zur Entlastung der Praxen beisteuern kann. Um diese jedoch zu maximieren, bedarf es einer Erweiterung der Diagnosemöglichkeiten durch digitale Hilfsmittel. Hieraus wurde die dritte Generation eingeleitet durch digitale Plattformen, welche neben der Videotelefonie noch die Erfassung von Vitaldaten des Patienten durch zertifizierte Diagnosegeräte ermöglichen und damit das Behandlungsspektrum der Telemedizin deutlich erweitern. Ein interessantes Unternehmen in diesem Bereich ist das in Berlin ansässige Unternehmen Medkitdoc. Das Unternehmen hat eine Plattform entwickelt, welche Ärzten neben klassischer Videotelefonie noch die Möglichkeit gibt, Patienten mithilfe von klassischen Diagnosegeräten deutlich genauer zu untersuchen und zu diagnostizieren. Das sogenannte Medkit umfasst neben einem Tablet ein Stethoskop, ein Gerät zur Messung der Sauerstoffsättigung sowie einem Blutdruckmessgerät. Damit können rund doppelt so viele Diagnosen gestellt werden, als mit klassischer videobasierter Telemedizin. Anwendung findet das Produkt aktuell in Pflegeeinrichtungen, wo Pflegekräfte mithilfe eines zugeschalteten Arztes die Erstdiagnose übernehmen können und so die Hospitalisierungsrate der Gepflegten zu reduzieren. Es sind aber auch weitere Anwendungsfälle wie beispielsweise beim Remote Patient Monitoring oder auch bei der Behandlung in unterversorgten Gegenden möglich.
Mentale Gesundheit
Ein weiterer Bereich, der bereits vor Covid ausbaufähig war, nun aber durch die Pandemie katalysiert worden ist, ist die mentale Gesundheit. Laut des BKK Gesundheitsreports 2021 gibt jeder Dritte Befragte an, dass seine psychische Gesundheit unter der Pandemie leidet. Wie schwerwiegend das Thema auch für unsere Gesamtwirtschaft ist, erkennt man an der durch psychische Störungen verursachten Arbeitsunfähigkeit. Psychische Störungen sind der zweitgrößte Verursacher von Arbeitsunfähigkeit, wobei Depressionen die häufigste Diagnose ist. Entsprechend hoch sind die Kosten für Unternehmen, welche durch psychische Erkrankungen einen erhöhten Krankenstand haben. Um hier frühzeitig gegenzusteuern, reicht es für Unternehmen nicht, sich auf die psychologischen Angebote des staatlichen Gesundheitssysteme zu verlassen, welche ohnehin mit der Nachfrage überfordert sind. Sie müssen der Belegschaft präventive Maßnahmen an die Hand geben, um Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden und können damit auch einen Beitrag zur Entlastung des Gesundheitssystems leisten. Ein spannendes Unternehmen in diesem Bereich ist das in Berlin ansässige Unternehmen Nilo. Nilo bietet Arbeitgebern eine mentale Gesundheitsplattform für deren Mitarbeiter. Nach einer ersten Triage des Mitarbeiters, wird für diesen ein individuelles mentales Gesundheitsprogramm erstellt. Dieses besteht aus einer Mischung aus Einzel- oder Gruppensitzungen mit Psychologen sowie digitalen Kursen auf Basis der kognitiven Verhaltenstherapie. Neben niedrigeren Arbeitsausfällen trägt Nilo zur Mitarbeiterzufriedenheit sowie zum positiven Employer Branding bei.
Diese drei Trends bilden nur einen kleinen Teil der vielfältigen Gebiete in der Gesundheitsbranche ab. Grundsätzlich haben aber alle Unternehmen im Gesundheitsbereich eine Chance, welche einen Mehrwert für alle beteiligten Stakeholder liefern: Patienten, Bezahler und Behandler. Hat man hier ein relevantes Geschäftsmodell, welche diese Parteien berücksichtigt, sind die besten Voraussetzungen geschaffen, um ein großes Unternehmen aufzubauen.
Riesige Chancen im Gesundheitsmarkt
Blickt man aus Investorensicht ist der Gesundheitsmarkt aber nicht nur wegen seiner schieren Größe interessant. Die vorherrschenden Marktstrukturen und Regulationen mögen auf den ersten Blick vielleicht abschrecken, bietet aber auch gerade deshalb große Chancen. Sobald es Unternehmen erst einmal geschafft haben, sich im deutschen Gesundheitssystem zu verankern, können auf ein staatlich finanziertes Gesundheitssystem zugreifen, und müssen weniger kostenintensive Überzeugungsarbeit für Selbstzahler betreiben. Darüber hinaus gibt es aus Investorensicht den Vorteil, dass es hierzulande noch nicht viele Investoren gibt, die sich auf den Gesundheitsbereich fokussieren. Dass der Markt jedoch in späteren Phasen sehr attraktiv für internationale Investoren sein kann ist bereits an verschiedenen Health-Unicorns in Europa bewiesen (z.B. Doctolib, kry, babylon Health).
Über den Autor:
Sascha Günther ist Principal bei Vorwerk Ventures und unter anderem zuständig für die Digital Health Investments. Zuvor war er Gründer und Geschäftsführer von yilu, einer B2B2C-Reiseplattform, die von der Lufthansa Group finanziert wurde und rund 60 Mitarbeiter umfasste. Erste Berührpunkte mit dem Gesundheitssystem sammelte er bei seiner Zeit beim Frühphaseninvestor Project A, wo er unter anderem bei den Investments in kry und Klara involviert war. Seine Karriere begann er seine Karriere in der Strategieberatung. Sascha Günther hält einen Bachelor von der ESB Reutlingen sowie einen CEMS-Doppelmasterabschluss von der UCD Dublin sowie ESADE Business School.
Über Vorwerk Ventures:
Vorwerk Ventures ist ein unabhängiger Venture-Capital-Fund mit Firmensitz in Berlin. Das Unternehmen investiert in Gründerteams mit disruptiven Produkt- und Service-Ideen, die das alltägliche Leben möglichst vieler Menschen verbessern. Vorwerk Ventures hat sich insbesondere auf digitale Geschäftsmodelle im B2C-Bereich spezialisiert und mit HelloFresh und Flaschenpost innerhalb kürzester Zeit zwei deutsche Unicorns von der Start-up Phase bis zum erfolgreichen Exit (Börsengang bzw. Unternehmensverkauf) begleitet. In Frühphasen (Seed- oder Series-A-Runden) investiert Vorwerk Ventures in der Regel zwischen einer und zehn Millionen Euro initial und kann insgesamt bis zu 15 Millionen Euro über die Laufzeit eines Investments investieren. Im Portfolio von Vorwerk Ventures sind zahlreiche prominente Start-ups und Grown-ups wie Thermondo, Lillydoo, Ottonova, Planted, Zapp, Avi Medical, Formel Skin und Everdrop vertreten. Auf der Exit-Liste stehen neben Flaschenpost und HelloFresh auch u.a. MeinAuto und Tennispoint.