„Ohne intaktes Klimasystem kann man nicht wirtschaften“

Interview mit Herrn Prof. Dr. Harald Welzer, Futurzwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit

Prof. Dr. Harald Welzer, Futurzwei - Stiftung Zukunftsfähigkeit
Prof. Dr. Harald Welzer, Futurzwei - Stiftung Zukunftsfähigkeit

Bildnachweis: © Futurzwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit.

Das stete Wirtschaftswachstum steht konträr zur Nachhaltigkeit und dem Klimaschutz. Allerdings lässt sich ohne intaktes Klima künftig auch kein Wirtschaftswachstum mehr realisieren. Welche Lösungen es braucht, um beides miteinander zu vereinen, erklärt der Soziologe Prof. Dr. Harald Welzer. 

VC Magazin: Inwiefern sind Klimaschutz und Wirtschaftswachstum überhaupt vereinbar?
Prof. Dr. Welzer: Das ist die größte aller Fragen. Grundsätzlich bedeutet Wirtschaftswachstum die Steigerung von Verbrauch, weil man keine absolute Entkoppelung von Ressourcenverbrauch und Wachstum hinbekommt. Damit ist es nichts Gutes für die Nachhaltigkeit. Es ist wichtig, gedanklich vom Wachstumsfetisch wegzukommen, denn dadurch entstehen Denkblockaden. Es ist nichts zwangsläufig besser, nur weil es größer oder mehr ist. Wir sollten diesen Begriff zugunsten qualitativer Kategorien hintanstellen. 

VC Magazin: Gleichzeitig bringen die aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt die EU zu einem erneuten Umdenken in Bezug auf Verlagerung der Produktionsflächen und den Nahrungsanbau – auch auf Kosten der Klimaziele. Wie bewerten Sie solche Aussagen?
Prof. Dr. Welzer: Wir haben jetzt ein halbes Jahrhundert Öko- und Umweltkommunikation und drei Jahrzehnte Klimakommunikation mit entsprechenden Behörden und Instituten. Beides hat über diese langen Zeiträume nicht dafür gesorgt, dass die Folgen von Umweltzerstörung in irgendeiner Weise prioritär betrachtet werden. Trotz der Jahrzehnte Kommunikation hat sich in den Mentalitäten überhaupt nichts verändert – das ist hochtragisch! An Ihrem Beispiel sieht man das sehr gut: Ökologische Fragen spielen einfach keine Rolle. Das ist ebenso wenig der Fall, wenn wir über Krieg, Steigerung von Rüstungsetats oder Waffenlieferungen sprechen. In meinem Buch „Klimakriege“ von 2008 habe ich am Beispiel des Vietnamkriegs gezeigt, wie nachhaltig dessen ökologische Folgen waren. Aber die Ökofrage kommt in die Ökoschublade und spielt bei Finanzkrisen, Corona-Pandemie und Krieg keine Rolle. Man zeigt sich hier blind gegenüber den Realitäten. 

VC Magazin: Ein permanentes Wirtschaftswachstum erfordert signifikant steigende Energiebedarfe. Ist dies angesichts der Endlichkeit fossiler Brennstoffe, der aktuellen Krisen und der hohen Aufwendungen für erneuerbare Energien überhaupt realistisch? 
Prof. Dr. Welzer: Das ist absolut nicht realistisch. Mit Wirtschaftswachstum lassen sich Verteilungsprobleme lösen; deshalb ist es in der Nachkriegszeit so prominent geworden. Alle konnten so am Wohlstandsgewinn partizipieren und man schaffte sozialen Frieden. Meine Generation gehört zu den privilegiertesten in der gesamten Menschheitsgeschichte, jedoch sind die Kosten dieses Erfolgs eine zunehmende Zerstörung seiner langfristigen Bedingungen. Aber: Ohne ein intaktes Klimasystem kann man nicht wirtschaften. Das wird systematisch ignoriert.

VC Magazin: Immer mehr Investoren und Unternehmen haben sich ESG- beziehungsweise Nachhaltigkeitskriterien verschrieben. Ist damit eine Kehrtwende in puncto Klimawandel möglich oder ist dies letztlich eine Art Feigenblatt? 
Prof. Dr. Welzer: Ich finde die Entwicklung bemerkenswert. Während die Autoindustrie zum Beispiel trotz ihrer hohen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der verschnarchteste Wirtschaftszweig ist, hat die Finanzindustrie den Schuss gehört. Sicher kann man hier zwischen Greenwashing und echten grünen Anlageformen differenzieren, aber grundsätzlich ist der Impact zu begrüßen, denn die Finanzindustrie hat einen weitreichenden Einfluss.

VC Magazin: Können wir mit nachhaltigem Wirtschaften Stand heute die Welt überhaupt noch retten?
Prof. Dr. Welzer: Ich bin kein Fan vom Begriff des Weltrettens, denn die Welt besteht auch ohne Menschen weiter. 

VC Magazin: Also müssen wir eher fragen, wie wir die Menschheit retten.
Prof. Dr. Welzer: Ich würde es noch mehr spezialisieren und eine bestimmte Form von Zivilisation aufrechterhalten wollen. Dabei denke ich an den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Um den zu erhalten, braucht man eine intakte Ökosphäre. Wir sehen ja bereits heute, wie die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen immer enger und der Stress auf die Bevölkerungen immer größer werden. Man kann nicht so weitermachen, wenn man diese Form von Zivilisation aufrechterhalten möchte.

VC Magazin: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und verlässt ungern die Komfortzone. Was muss in Ihren Augen passieren, dass wir zu radikalen Veränderungen bereit sind und nicht lediglich permanent Probleme verlagern?Prof. Dr. Welzer: Es gibt den Menschen nicht im Singular, nur im Plural. Und die menschliche Lebensform zeichnet sich durch ihre enorme Anpassungsfähigkeit aus das ist unsere Stärke. Demnach sind Menschen das Gegenteil von Gewohnheitstieren. Bestes Beispiel sind ältere Menschen aus Ostdeutschland: Sie haben in ihrem Leben drei bis vier Systeme mit vollkommen unterschiedlichen Anforderungen erlebt. Menschen können sich verändern und anpassen. Unter Extrembedingungen – wie zum Beispiel, wenn Menschen flüchten müssen – können sie Situationen in Kauf nehmen, die sie vorher nie für möglich gehalten hätten. Künftig werden wir alle die Komfortzone verlassen müssen, weil das Exit-Zeichen bereits aufleuchtet. Das ist unausweichlich. 

VC Magazin: Ohne Wohlstandsverluste wird keine wirkungsvolle Bekämpfung des Klimawandels und der Erderhitzung möglich sein. Wem trauen Sie zu, diese Maßnahmen umzusetzen?
Prof. Dr. Welzer: Bei der Stiftung Futurzwei ist der Ansatz, dass uns Unternehmen, Initiativen, Einzelpersonen interessieren, die anders wirtschaften und damit soziale und ökologische Fortschritte machen. Damit bringen uns First Mover in einen politischen Prozess, der die Entwicklungen gesetzesförmig macht. Fortschritt kommt immer von unten und nicht etwa aus Politik, Wirtschaft oder Forschung. Aus der Wirtschaft und Wissenschaft kommen im Anschluss die Operationalisierungen und Optimierungen. Aber alles, was unsere Lebenswelt prägt und was erfolgreich wurde, kam von einzelnen, klugen Menschen auf der Grundlage eigener Urteilskraft und nicht etwa, weil sie dachten, was alle dachten.  

VC Magazin: In Interviews und Beiträgen gehen Sie mit der Politik und zum Beispiel dem Sondierungspapier der neuen Regierung hart ins Gericht, weil nur verlagert wird, aber keine einschneidenden Maßnahmen enthalten sind. Was würden Sie am liebsten umgehend anpacken?
Prof. Dr. Welzer: Lassen Sie es mich am aktuellen Beispiel demonstrieren: Die erste politische Reaktion auf den aktuellen Preisanstieg im Energiesektor war die Erhöhung der Pendlerpauschale. Als wir 1973 die Ölkrise hatten, schrieb die damalige Bundesregierung als Erstes vor, in Behörden Heizungen auszudrehen und Strom zu sparen. Anschließend wurde ein Energiesicherungsgesetz festgeschrieben, das die Bürgerinnen und Bürger betraf, und das Paradigma des Energiesparens ausgerufen. Heute gilt im Gegensatz zu damals das Paradigma der weiteren Energieverschwendung – und da sie nun teuer wird, denkt sich die Politik Vergünstigungen aus. Dieses Verschwendungsmodell setzt sich in allen Bereichen fort. Wir müssen das aber dringend loswerden, wenn wir überhaupt durch das 21. Jahrhundert kommen wollen. So etwas Einfaches wie Sparen ist heute keine Kategorie mehr. Die FDP hat als einzige Lösungsstrategie für das Klimaproblem, dass irgendwann Daniel Düsentrieb oder Elon Musk vorbeischauen und die Probleme lösen. Aber das wird wohl kaum passieren. 

VC Magazin: Wo sehen Sie unser Land, unseren Kontinent in zehn Jahren?
Prof. Dr. Welzer: Wir befinden uns in einer so krisenhaften und volatilen Situation, dass man das nicht sagen kann. Ich fühle, ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, ein so großes Rollback auf so vielen Ebenen, dass es sehr schwer wird, dort wieder herauszukommen. Ich habe in den letzten Wochen viele Gespräche mit Menschen aus meiner Generation geführt und höre oft: „Ich bin zum ersten Mal froh, dass ich schon so alt bin.“ Das ist wirklich bitter. 

VC Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Prof. Dr. Harald Welzer ist Mitgründer und Direktor der Futurzwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit und Buchautor. Zu seinen Werken zählt unter anderem „Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird“. Er ist Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und lehrt an der Universität St. Gallen sowie an der ETH Zürich.