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Kaum eine Woche vergeht, in der nicht über eine neue Anwendung aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz berichtet wird. Computer können inzwischen Kunstwerke erstellen, und ein Google-Entwickler glaubt, in einem KI-Programm ein Bewusstsein entdeckt zu haben. Wo stehen wir gerade in der Entwicklung?
Vielerlei Geschichten über neue Methoden der künstlichen Intelligenz, die derzeit den Weg in die Medien finden, führen zu einem Schmunzeln oder verleiten zum Spieltrieb. So geschehen bei der KI-Bildsoftware Dall-E, mit der in Minutenschnelle computergenerierte Bilder erzeugt werden können. Das lädt zu stundenlangem Spaß ein.
Aber hinter solchen Anwendungen steckt auch eine spätere mögliche kommerzielle Anwendung. „Die Zeitspanne zwischen dem Schmunzeln über eine neue Software oder Technologie und dem kommerziellen Roll-out wird immer kürzer“, erklärt dazu Dr. Philipp Hartmann, Director of AI Strategy bei der Initiative appliedAI von UnternehmerTum in München. Google stellte kürzlich ein System vor, bei dem mittels einer KI auf der Basis von einer kurzen Sprachprobe die Stimme einer Person nachgeahmt werden kann. Dafür gab es viel Lob, aber auch Kritik für den Ansatz von Google, wonach man nun auch mit verstorbenen Verwandten sprechen könne. Wohin vergleichbare Systeme führen, erlebte gerade erst die regierende Bürgermeisterin Berlins, Franziska Giffey, die wie andere europäische Politiker auf einen Deep-Fake-Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew hereinfiel.
KI ist irgendwann überall
„Grundsätzlich kann ich mir derzeit keinen Bereich vorstellen, in dem über kurz oder lang kein System mit künstlicher Intelligenz zum Einsatz kommt. Es ist im Kern nur die Frage, mit welcher Geschwindigkeit diese Systeme jeweils eingeführt werden können“, fährt Hartmann fort. Wissenschaftler und Unternehmen würden aber auch immer wieder die Erfahrung machen, dass die Nutzung und Integration von KI-System „nicht einfach ist“. Hier bestünden teilweise zu hohe Erwartungen oder der zeitliche Aufwand werde unterschätzt. „Wir sehen in den Branchen Finanzen, Logistik und Healthcare aktuell die besten Möglichkeiten für den Einsatz künstlicher Intelligenz. Aber auch im Bildungsbereich durch ‚Remote Learning‘ kann es schon jetzt gute Möglichkeiten geben“, sagt Georges Khneysser, Gründer und CEO von QBit Capital.
„Tech-Due-Diligence“ erforderlich
Der Frühphaseninvestor wurde vor einem knappen Jahr gegründet, residiert im Technopark – dem Innovationshub in Zürich – und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ausgründungen aus der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich bei den ersten unternehmerischen Schritten zu begleiten. Gesucht werden Gründerinnen und Gründer für Pre-Seed- oder Seed-Runden. Diese werden dann intensiv unterstützt und bekommen sämtliche Ressourcen zur Verfügung gestellt, um den Erfolg voranzutreiben. „Wir arbeiten lieber mit weniger Gründungsteams zusammen und dafür dann aber richtig. Den sonst üblichen Investmentansatz, wonach neun von zehn Unternehmen scheitern, finden wir nicht angemessen. Wir glauben nicht an dieses Zahlenspiel. Wir bauen gemeinsam mit unseren Gründern und Netzwerkpartnern Unternehmen auf, anstatt Einhörner zu jagen“, erklärt Khneysser. Bei der Auswahl möglicher Kandidaten setzt er besonders auf das, was er eine „Tech-Due-Diligence“ nennt. Dahinter verbirgt sich ein ausführliches Feedback von Branchenexperten zur Technologie und zu den geschäftlichen Aussichten. „Man darf sich nicht blenden lassen – auch nicht vom Lebenslauf“, sagt Khneysser.
Geschwindigkeit aufnehmen
KI ist nach Ansicht von Hartmann inzwischen zwar immer noch ein Modebegriff, mit dem sich Investoren locken lassen – aber die technische Reife der Unternehmen habe deutlich zugenommen: „Der erste Hype vor ein paar Jahren, bei dem eine smarte Excel-Tabelle als KI verkauft wurde, ist zum Glück vorbei.“ München sieht er als einen starken Standort mit etlichen wissenschaftlichen Talenten und einer internationalen Strahlkraft. Die bayerische Metropole verfüge vor allem über ein starkes industrielles Netzwerk – während Berlin im Bereich Deeptechanwendungen aktuell die Nase vorn habe. Für Khneysser und Hartmann ist es aber höchste Zeit, dass Deutschland und Europa Geschwindigkeit aufnehmen, um nicht noch weiter von den USA und China abgehängt zu werden. Dabei sei es wichtig, weiter an einer möglichst großen Datenbasis zu arbeiten. Große Systeme haben derzeit Hunderte Milliarden Parameter – Tendenz steigend. Seit diesem Jahr fördert die Bundesregierung das Projekt OpenGPT-X, mit dem ein europäisches System für Sprach-KI entwickelt werden soll. Bisher sind hier amerikanische und chinesische Systeme führend, zumal sie nach Einschätzung von Khneysser ihre Innovationen stärker vermarkten.
Fazit
Deutschland hinkt aber nicht nur hinterher: Der Erfolg von BioNTech bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus basiert auch auf einer Kombination von Big Data, Machine Learning und Deeptech. Als eines der herausragendsten KI-Start-ups in Deutschland gilt Aleph Alpha, in das auch UVC Partners, die Early Stage Venture Capital-Gesellschaft von UnternehmerTum investiert hat. Es gibt also auch gute Nachrichten für die deutsche KI-Branche.
Hüsges Gruppe: Schadensermittlung per KI
Wenn es auf der Straße kracht, dann ist im Zweifel ein Gutachten notwendig, um den Schaden zu beziffern. Bisher ist dies ein aufwendiger Vorgang, denn ein geschulter Fachmann muss anreisen, den Schaden betrachten, fotografieren und dann sein Gutachten erstellen. Im Jahr 2022 ist das dank künstlicher Intelligenz nicht mehr unbedingt notwendig.
Bei der Hüsges Gruppe aus dem nordrhein-westfälischen Willich wird eine selbstentwickelte Machine Learning-basierte Technik eingesetzt, die auf der Basis von Fotos des beschädigten Fahrzeugs zuverlässig und schnell die Höhe der Reparaturkosten ermittelt. Das Unternehmen hatte für diesen Schritt beste Voraussetzungen, denn seit Gründung vor mehr als 60 Jahren beschäftigt man sich bereits mit KfZ-Gutachten. „Wir verfügen über Millionen von Unfallfotos, die dazu passenden Fahrzeugdaten und die ermittelte Schadenshöhe“, erklärt Geschäftsführer Arndt Hüsges. Inzwischen wurde die Software dahin gehend weiterentwickelt, dass sie ihren ermittelten Schaden auch mit anderen KI-Systemen vergleichen kann. So gibt es Programme, die die Schadenshöhe oder den Fahrzeugrestwert auf der Basis von Farbunterschieden, Änderungen in der Pixelstruktur oder von Beschleunigungsdaten vom Unfall ermitteln. Die Trefferquote des Systems liege bei 100% und die Gutachten würden von den Versicherern und Leasinggesellschaften akzeptiert. Bis zu einer Schadenshöhe von rund 3.500 EUR reichen die Fotos vom Unfallschaden, die nach einer speziellen Anleitung erstellt werden können. Für Schäden in einer Höhe zwischen 3.500 und 6.000 EUR wurde inzwischen ein weiteres System entwickelt, bei dem ein geschulter Experte den Kunden per Live-View vor Ort genau instruiert, welche Aufnahmen vom Fahrzeug gemacht werden sollen. Gerade erst wurde das System dafür mit dem Deutschen Award für Nachhaltigkeitsprojekte vom Deutschen Institut für Service-Qualität ausgezeichnet.
Polus Tech: Rettungskräfte intelligent steuern
Unwetter, Naturkatastrophen oder auch Epidemien erfordern schnelle und abgestimmte Reaktionen. Moderne Systeme mit der Unterstützung durch künstliche Intelligenz können hier eine wertvolle Hilfe leisten. Polus Tech aus der Schweiz arbeitet an Lösungen für Katastrophenhelfer, damit diese im Fall eines Unglücks besser reagieren können. Dabei geht es auch um einen optimalen Einsatz von Personal und Material. „Beispielsweise im Fall eines Großbrandes könnte dieses System dabei unterstützen, dass wirklich die richtigen Einsatzkräfte angefordert werden, die auch über das richtige Equipment verfügen. Weiterhin wäre es durch ein solches Programm möglich, bei der Beurteilung der Schadenslage helfen, für mehr Überblick sorgen und damit die Entscheidung für weitere Maßnahmen unterstützen“, erklärt Firmengründer Niv Karmi.
Ermöglicht werden soll das nach den Planungen von Karmis Firma durch den Einsatz von Sensoren auf Einsatzfahrzeugen sowie durch die Nutzung von Wetterdaten oder anderen Quellen wie Satellitenaufnahmen. Aus diesen Informationen könne das System nach Fertigstellung dann selbstständig eine Lagebeurteilung vornehmen und Hinweise über den optimalen Einsatz von Material und Helfern geben – auf der Basis der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Wichtigste Zielgruppe für diese staatlichen Organisationen und Rettungsorganisationen, aber auch ein Einsatz in größeren Unternehmen könne laut Karmi sinnvoll sein.
Feelbelt: Immersion der besonderen Art
Immersion ist eines der neuen Buzzwords unter den Techies. Dahinter verbirgt sich das möglichst tiefe und realistische Eintauchen in virtuelle Welten – so realitätsnah wie nur eben denkbar. Für den persönlichen Gebrauch, etwa im Gamingbereich, gab es bisher neben einer VR-Brille nur die vibrierenden Steuergriffe. Ein junges Gründerteam aus Potsdam ging hier vor gut zwei Jahren einen Schritt weiter und schuf mit Feelbelt ein vollkommen neuartiges Tool: Durch einen Gürtel um den Bauch spürt man Detonationen, Erschütterungen oder Sprünge direkt auf der Haut. Der Feelbelt überträgt durch zehn integrierte Impulsgeber den Sound eines Games, eines Films oder eines Songs direkt auf den Körper. Nicht nur tiefe Bassfrequenzen, sondern selbst hohe Töne werden fühlbar. Das „Haptische Feedback 2.0“ erschließt eine bislang nicht genutzte Dimension der Sinne. Inzwischen arbeitet das Team um CEO Benjamin Heese an weiteren Anwendungen für seine Technologie. Ihm war es wichtig, zuerst ein marktfähiges Produkt für eine bestimmte Anwendung zu entwickeln und dann an zusätzlichen Nutzungsmöglichkeiten zu arbeiten.