Bildnachweis: Bayern Kapital, High-Tech Gründerfonds, Apollo Health Ventures, IZB.
Eine ganze Weile befanden sich die Biowissenschaften in Deutschland in stetem Aufwind. Während der Pandemie erlebte die Branche, die einen Anwendungs-schwerpunkt in der Medizin hat, einen regelrechten Höhenflug – die schnelle Umsetzung der mRNA-Technologie in wirkungsvolle COVID-19-Impfstoffe wurde zum weltweit beachteten Symbol der Innovationskraft des Standorts. Aktuell ist die Stimmung deutlich trüber: Der zwischenzeitliche Kurseinbruch an der für die Branche so wichtigen US-amerikanischen Technologiebörse Nasdaq hat auch in Deutschland ansässige Unternehmen stark belastet. Die instabilen wirtschaftlichen Bedingungen – Krieg, Energiekrise, Inflation, Fachkräftemangel – drücken auf Umsatz und Wachstum. Nicht zuletzt birgt die digitale und technologische Transformation manche Herausforderung. Sie betrifft innerbetriebliche Abläufe, die Interaktion zwischen pharmazeutischer Industrie und Medizintechnik, aber auch den Austausch mit Patienten.
Daten sind das neue Gold
„Ein zentraler Erfolgsfaktor für Unternehmen ist heutzutage die Fähigkeit, ihre Value Chain an die Gegebenheiten eines sich permanent verändernden digitalen Marktumfelds anzupassen“, weiß Andreas Huber, Scientific Director beim Venture Capital-Investor Bayern Kapital. Als Biologe ist er von den Chancen fasziniert: „Umgekehrt entwickeln sich für die Life Sciences im Zuge der Querschnittstechnologie Digitalisierung Perspektiven in noch gar nicht absehbarem Ausmaß – jeder kleine Fortschritt eröffnet ein nächstes Universum an Möglichkeiten!“ Unter anderem profitiere der Bereich der Wirkstoffentwicklung, wo Biotechs zunehmend künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen einsetzen. Im nächsten Jahrzehnt schätzt Morgan Stanley allein den globalen Markt hierfür auf rund 50 Mrd. USD. Dies trifft auf einen ohnehin steigenden Anteil der Biopharmazeutika: In Deutschland war 2021 beinahe jede zweite Neuzulassung ein solches mit Mitteln der Biotechnologie und gentechnisch veränderten Organismen hergestelltes Arzneimittel. „Die neuen technologischen Fähigkeiten wie zunehmende Automatisierung, Echtzeitdatenerfassung und künstliche Intelligenz helfen, riesige Datensätze aus klinischen Studien, Gesundheitsakten und genetischen Profilen zu analysieren, was etwa die Diagnostik deutlich verbessern könnte. Es besteht das Potenzial, die Kosten im Gesundheitswesen erheblich zu reduzieren, Ergebnisse schneller zu erzielen und den Nutzen für Patienten erheblich zu erhöhen“, so Huber weiter. „Das Zusammenspiel von Biologie, Datenwissenschaft und künstlicher Intelligenz könnte dazu beitragen, schwer zu behandelnde Krankheiten – unter anderem diverse seltene Erkrankungen, aber auch verschiedene, heute noch unheilbare Formen von Krebs – absehbar heilen zu können.“ Huber ist überzeugt: „Daten und neuartige, verbesserte Datenanalysen sind das neue Gold!“ Für Unternehmen der Branche bedeute das allerdings auch die Notwendigkeit, sich verstärkt Themen wie Datenschutz, Interoperabilität und Cybersecurity zu stellen, um die Patientensicherheit weiter zu gewährleisten.
Notwendigkeit für Kooperationen und Fusionen steigt
Inhaltlich stehen Immuntherapien, RNA-basierte Impfstoffe sowie Zell- und Gentherapeutika zur Behandlung etwa von Krebs, Infektionskrankheiten, Neurodegeneration und psychischen Erkrankungen weiterhin im Vordergrund der angewandten biomedizinischen Forschung. „Nicht zuletzt angesichts der pandemiebedingten Zwangspause bei klinischen Studien und wissenschaftlichem Austausch sehen wir aktuell eher Schrittinnovationen“, berichtet Dr. Frank Hensel, der die Life Sciences als Principal beim High-Tech Gründerfonds betreut. „Sie sind aber die Grundlage medizinischen Fortschritts! Erfreulich ist, dass sich im Bereich Drug Development inzwischen auch in Deutschland Start-ups so finanzieren lassen, dass sie einige Jahre in Ruhe an ihren Assets arbeiten können – früher waren Finanzierungsrunden wesentlich kleiner, und es war kaum möglich, mehr als eine klinische Studie zum Wirksamkeitsnachweis durchzuführen. Daneben ist insbesondere in der späten Phase so viel Venture Capital im Markt, dass es auch in Europa möglich sein sollte, große Firmen zu bauen.“ Die erfolgreiche BioNTech-Story sieht er dennoch im Kontext der Pandemie, nicht als Blaupause für andere Biotechunternehmen. „Die Mainzer haben von der Entwicklung ihrer Pipeline von Opportunitäten profitiert und während der COVID-Pandemie den richtigen Riecher gehabt. Auf solche Faktoren kann man bei der Finanzierung von Biotechunternehmen nicht setzen. Nur wenigen wird eine solch spektakuläre Entwicklung gelingen. Fest steht, dass in der Szene die Notwendigkeit zur Kooperation oder gar Fusion immer größer wird, auch im Hinblick auf die anhaltende Globalisierung einerseits und die Lieferkettenproblematik andererseits. Es wird immer wichtiger, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Markt mit den richtigen Partnern zusammenzuarbeiten.“
Longevity-Hoffnung begründet enormes Marktpotenzial
Weiter im Aufwärtstrend ist die personalisierte beziehungsweise Präzisionsmedizin, die – weg von der Einheitslösung – Medikamente und maßgeschneiderte Therapien entsprechend der molekulargenetischen Signatur eines Menschen entwickelt. „In der Vergangenheit lag der Fokus hierfür auf der Behandlung von Krebs“, erzählt Nils Regge, einer der beiden Gründer und Geschäftsführer von Apollo Health Ventures. Selbst setzt der Venture Capitalist schon vorher an: „Bei den Firmen, die wir finanzieren oder selbst bauen, konzentrieren wir uns auf die Früherkennung chronischer altersbedingter Krankheiten. Konnten bisher nur Symptome einer Krankheit behandelt werden, lassen sich dank heutigem Wissen – teils gepaart mit Machine Learning – deren Ursachen früher erkennen und gezielt bekämpfen: Heute verfügbare individuelle molekulare Biomarker machen es möglich, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Leiden wie Diabetes, Krebs, Alzheimer oder Parkinson vorzubeugen, bevor sie sich manifestieren. Auf dieser Basis lassen sich auch Medikamente entwickeln, die den Ausbruch solcher Krankheiten nach hinten schieben.“ Seine Prognose: „Pharmaunternehmen werden sich von einem reinen Angebot von Therapeutika hin zu einem Angebot von individualisierten Diagnostika, Biomarkern und Therapeutikadienstleistungen orientieren.“ Vor diesem Hintergrund hat Apollo Health Ventures mit in Altersforschung und Homöostase führenden akademischen Experten 2018 die Firma Samsara Therapeutics gegründet. Ihr Ziel ist es, neue Mechanismen zu entdecken, die die Autophagie als körpereigenen Prozess der Zellerneuerung ankurbeln, sowie Medikamente zu entwickeln, die diese Mechanismen für die Behandlung genetisch bedingter Krankheiten nutzen. Regge: „Wir erwarten, dass in den nächsten Jahren diverse Phase-I-Studien für bestimmte Medikamente kommen, die sehr vielversprechend sind und sich hier erste ‚Longevity Drugs‘ abzeichnen. Spätestens dann wird ein großer Boom in diesem Markt entstehen. Wenn wir das in Venture Capital Returns übersetzen, ist das der größte Markt, den es je gab!“
Life Sciences sind Zukunftswissenschaften
Den breiten Blick auf die Branche liefert Dr. Peter Hanns Zobel, langjähriger Geschäftsführer des Innovations- und Gründerzentrums für Biotechnologie (IZB) in Martinsried bei München. „Wir leben in einer revolutionären Zeit des wissenschaftlichen Wandels. Die Life Sciences werden unsere Welt weiter positiv verändern mit neuen Diagnostikverfahren, neuen Medikamenten und neuen Therapien. 60% der nächsten Medizingeneration kommen bereits aus der Biotechnologie!“ Der IZB-Campus mit seinen aktuell 50 Mietern auf 26.000 Quadratmetern Büro- und Forschungsfläche bietet einen Querschnitt: Aktuell sind dort 27% der Unternehmen in der Wirkstoffforschung tätig, 25% erarbeiten biotechnologische Services, 16% sind Produktentwickler und 9% arbeiten an diagnostischen Themen. Zobel: „Die Life Sciences sind echte Zukunftswissenschaften. Unsere IZB-Start-ups und -Firmen wachsen, fragen weiter Flächen nach, verzeichnen eine gute Mitarbeiterentwicklung und werben erfolgreich Kapital ein. Ich glaube unverändert an die Zukunftstechnologie ‚Biotech‘ und an den Erfolg unserer Start-ups. Die hohe Innovationskraft am Standort Deutschland zeigt sich auch in dieser Zeit in bedeutenden Finanzierungsrunden, die amerikanischen Größenordnungen kaum nachstehen.“ Jüngstes Beispiel ist die erst 2019 gegründete Tubulis GmbH, die das Antikörper-Drug Conjugate-Feld sehr aussichtsreich bespielt und 2022 mit einer B-Runde von 60 Mio. EUR belohnt wurde. „Für die Zukunft wird es darum gehen, das enorme Wertschöpfungspotenzial der wissenschaftlichen Ergebnisse aus der akademischen Forschung für die Biotechnologieindustrie noch stärker kommerziell zu erschließen“, resümiert Zobel. „Dafür müssen wir insbesondere Entrepreneurial Skills vermitteln, Fachkräfte ausbilden und Kapital bereitstellen – schließlich braucht jedes erfolgreiche Unternehmen nicht nur eine gute Produktidee, sondern auch wirtschaftliches Know-how, ein gutes Team und ausreichende Finanzierung.“