Ist Deutschland der „kranke Mann in Europa“?

Kommentar

Prof. Dr. Peter Bofinger
Prof. Dr. Peter Bofinger

Bildnachweis: Prof. Dr. Peter Bofinger.

Im August 2023 hat der Economist, das weltweit führende Wirtschaftsmagazin, die Frage gestellt, ob Deutschland wieder „der kranke Mann in Europa“ sei. Man muss keine tiefgreifenden Analysen vornehmen, um zu erkennen, dass es bei uns wirtschaftlich nicht rund läuft. Unsere Wirtschaft ist im vergangenen Jahr nicht gewachsen, und 2024 dürfte sich daran nichts Grundlegendes ändern. Insgesamt liegen wir damit in etwa auf dem Niveau von 2019.

Was sind die Ursachen für diese Schwäche der deutschen Wirtschaft? Im öffentlichen Diskurs werden überbordende staatliche Regulierungen und eine ineffiziente Bürokratie schnell als Hauptübel diagnostiziert. Das ist sicherlich keine Fehldiagnose – aber sie hilft nicht wirklich weiter. Die Regulierungen in anderen Ländern sind nicht geringer und die Verwaltungen nicht effizienter, aber es gelingt dort gleichwohl, Wachstum zu generieren.

Geschäftsmodell „überlebt“

Vor allem aber besteht die Gefahr, dass man bei dieser vordergründigen Diagnose tieferliegende Probleme übersieht. In meinen Augen besteht unser größtes wirtschaftliches Problem darin, dass sich unser „Geschäftsmodell“ überlebt hat. Es beruhte in den vergangenen Jahrzehnten auf Export, Industrie und Automobil. Alle drei Bereiche sehen sich jetzt gravierenden Herausforderungen gegenüber:

• Wie kein anderes Land haben wir auf den Export gesetzt. Mit der Globalisierungswelle seit 1990 war das eine erfolgreiche Strategie. Doch die Globalisierung hat ihren Höhepunkt überschritten; Reshoring, Derisking und offener Protektionismus bestimmen jetzt den Welthandel. Somit entfällt der Export als Wachstumstreiber für die deutsche Wirtschaft.

• Wir waren immer stolz darauf, dass es uns gelungen ist, eine leistungsfähige Industrie in Deutschland zu erhalten – aber steigende Energiepreise und die Notwendigkeit der Dekarbonisierung machen einem Industrieland deutlich mehr zu schaffen als Volkswirtschaften, die einen Fokus auf Dienstleistungen und Digitalisierung aufweisen.

• Wie kritisch es um den Automobilbereich bestellt ist, verdeutlicht die Tatsache, dass VW-Markenchef Thomas Schäfer Ende November einräumen musste, dass die Marke VW nicht mehr wettbewerbsfähig sei. Die große Herausforderung kommt jetzt aus China, das eine Fahrzeuggeneration Vorsprung in der Elektromobilität besitzt.

Wie kann Deutschland die erforderliche Transformation des Geschäftsmodells gelingen? Hier sind sich die Ökonomen darin einig, dass sie erhebliche staatliche und private Investitionen erfordern wird – und mittlerweile weithin auch darin, dass diese nicht zu finanzieren sind, wenn wir strikt an der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse festhalten. So hat der einflussreiche Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie dafür geworben, staatliche Investitionen, die über die Abschreibung hinausgehen, mit Kredit zu finanzieren. Prof. Dr. Clemens Fuest und andere prominente Ökonomen haben sich dafür ausgesprochen, für Zukunftsinvestitionen einen Kreditrahmen („Sondervermögen“) im Grundgesetz zu schaffen.

Fazit

Aber sind unsere Staatsschulden nicht bereits viel zu hoch? Wenn man die Staatsverschuldung nicht in absoluten Eurobeträgen, sondern – wie es ökonomisch angemessen ist – in Relation zu unserer Wirtschaftsleistung betrachtet, ist der Befund vergleichsweise unproblematisch. Mit 64% ist unsere Schuldenquote heute nicht höher als vor 20 Jahren. Sie ist zudem erheblich geringer als in allen anderen großen Volkswirtschaften. Die Staatsverschuldung ist also nicht unser größtes Problem, wie in der öffentlichen Debatte oft suggeriert wird; sie ist vielmehr eines unserer geringeren Probleme. Und das ist ja eine gute Nachricht: Wir sind sehr viel eher als andere Länder in der Lage, in großem Stil die notwendigen Zukunftsinvestitionen zu finanzieren. Wenn unsere Politikerinnen und Politiker das einmal erkennen und dieses Potenzial klug nutzen, kann der „kranke Mann“ schnell wieder auf die Beine kommen.

Über den Autor:

Prof. Dr. Peter Bofinger ist ein deutscher Ökonom und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. Er war zudem bis Februar 2019 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.