Point of no Return während der Wachstumsphase schwer zu bestimmen

Insolvenzen rechtzeitig vermeiden

Dr. Michael Schaumann (Görg Partnerschaft von Rechtsanwälten), Matthias Räupke (Schneider Geiwitz Restrukturierung) & Johannes Chrocziel (Anchor Rechtsanwälte)
Dr. Michael Schaumann (Görg Partnerschaft von Rechtsanwälten), Matthias Räupke (Schneider Geiwitz Restrukturierung) & Johannes Chrocziel (Anchor Rechtsanwälte)

Bildnachweis: Görg Partnerschaft von Rechtsanwälten, Schneider Geiwitz Restrukturierung, Anchor Rechtsanwälte.

Die Zahl der Insolvenzen in Deutschland steigt seit rund einem Jahr rapide an. Inzwischen werden sogar die Vor-Corona-Werte reihenweise überschritten. Kommt eine neue Pleitewelle?

Zuerst wurde das deutliche Ansteigen der Insolvenzzahlen noch als ein „Aufholen“ nach der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht während der Coronapandemie gedeutet. Inzwischen setzt sich das Wachstum bei den Pleiten aber mit einem hohen Tempo weiter fort. Nach dem aktuellen Insolvenztrend des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) ist die Zahl der Insolvenzen im April bereits den dritten Monat in Folge auf einen weiteren Höchstwert gestiegen. Der aktuelle Wert liegt fast um die Hälfte über dem Vorjahreswert und immerhin noch 40% über dem Aprildurchschnitt der Jahre 2016 bis 2019, also vor der Coronapandemie.

Panik nicht angebracht

Ist jetzt Zeit für Panik? Nein – beruhigt Prof. Dr. Steffen Müller vom IWH: „Während die derzeit noch außergewöhnlich hohe Zahl an Insolvenzen besorgniserregend wirkt, zeigen unsere Frühindikatoren klar in Richtung Entspannung. Ich gehe davon aus, dass die Insolvenzzahlen bereits ab Mai, spätestens jedoch ab Juni wieder sinken.“ Zudem liegen die derzeitigen Insolvenzzahlen erheblich unter den bisherigen deutschen Spitzenwerten in der Zeit der großen Finanzkrise 2007 und 2008. „Besonders betroffen sind aktuell die Branchen Immobilien und Bau, stationärer Einzelhandel sowie unverändert Automotive und energieintensive Branchen. Aber die Polykrisen Corona, Ukrainekrieg, Lieferkettenproblematik und Energiepreisexplosion sind inzwischen in die meisten Geschäftsmodelle und Prognosen eingepreist“, sagt Matthias Räupke von Schneider Geiwitz Restrukturierung.

Haftung droht ab dem ersten Tag

Worauf sollten Start-up-Geschäftsführer und auch Venture Capital-Investoren achten, um eine Insolvenz vermeiden zu können? Die schlechte Nachricht zuerst: „Für den GmbH-Geschäftsführer, ob Geschäftsführer eines Start-ups oder nicht, besteht die Pflicht, eine Krise rechtzeitig zu erkennen und Gegenmaßnahmen einzuleiten“, sagt Dr. Michael Schaumann von der Görg Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB. Ein Geschäftsführer müsse bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder einer Überschuldung ohne „schuldhaftes Zögern“ einen Insolvenzantrag stellen. Und zu beachten ist laut Dr. Schaumann: „Die dafür genannte Frist von drei Wochen bei Zahlungsunfähigkeit beziehungsweise sechs Wochen bei Überschuldung zur Stellung eines Insolvenzantrags gilt – anders als oft irrig angenommen – nur als Höchstfrist. Eine zivil- und strafrechtliche Haftung kann schon ab Tag eins beginnen.“

Es drohen saftige Rückzahlungen

Das Hauptproblem besteht dabei in der zivilrechtlichen Haftung, denn im Insolvenzfall können Zahlungen zurückgefordert werden, die das kriselnde Unternehmen geleistet hat. Und der Insolvenzverwalter kann dann zumindest versuchen, diese unrechtmäßigen Zahlungen bei der Geschäftsführung wieder einzutreiben. Je nach Unternehmensgröße können hier erhebliche Summen auflaufen. „Die Alarmglocken müssen klingeln, wenn Probleme mit der Liquidität oder dem längerfristigen Konzept der Durchfinanzierung auftreten. Dann drohen sehr schnell Insolvenzantragspflicht und damit verbundene Haftungsrisiken für die Geschäftsführung“, sagt Johannes Chrocziel von Anchor Rechtsanwälte. Im Kern gehe es um permanente Krisenfrüherkennung und Krisenmanagement. „Wichtigstes Tool ist neben der fortlaufenden Überwachung und Prognose der Liquidität zum Ausschluss einer Zahlungsunfähigkeit die Prüfung der ‚positiven Fortbestehensprognose‘, um eine Überschuldung auszuschließen“, fährt er fort. „Cash“ ist also das Zauberwort, denn überwiegend wahrscheinlich ist die Fortführung des Unternehmens, wenn der Betrieb nach der Planung durchfinanziert ist. Droht in der Zukunft eine Unterdeckung, dann müsse gehandelt werden. Insofern ist es laut Dr. Schaumann wichtig, Finanzierungszusagen und Bewertungsfragen rechtzeitig zu klären, damit Unsicherheiten bei der Liquidität beseitigt werden. „Wenn sich die Unterdeckung bereits in der kurzfristigen Liquiditätsplanung zeigt, ist es meist schon zu spät“, warnt er.

Mal ist Geld da – Mal nicht

Ein Problem besteht darin, dass für Start-ups die gesetzlichen Anforderungen nicht immer gut passen. „Ein Start-up ist grundsätzlich von der Finanzierung Dritter abhängig, befindet sich im Aufbau – mit einem oftmals hohen Cash Burn –, und statt Krisenfrüherkennung geht es um Skalierung“, erläutert Anchor. Diese Analyse teilt Räupke. Seine Kanzlei hat jüngst unter anderem das Eigenverwaltungsverfahren von Sono Motors begleitet. Es gibt nach seiner Ansicht viele junge Unternehmen, die wenig oder keinen Umsatz generieren, aber zugleich für Entwicklung, Prototypen und Fertigungsanlagen jede Menge Geld benötigen. „Im Prinzip ist es so, dass immer mal Geld da ist – und dann wieder nicht“, schildert er den typischen Ablauf. In der Abfolge von verschiedenen Stationen der Finanzierung – von Friends, Family and Fools über mehrere Finanzierungsrunden bis zu einem möglichen Börsengang – komme immer wieder Geld in die Kasse und fließe unter Umständen ebenso schnell wieder ab. Für ihn ist es während der Wachstumsphase eines Unternehmens nicht einfach, in einer Krisensituation den „Point of no Return“ zu definieren. Grundsätzlich sollte man sich aber lieber zu früh als zu spät Rat holen.

Wie sollte sich ein Investor verhalten?

„Der Investor oder Venture Capital-Investor ist im Regelfall Gesellschafter. Wesentliches Interesse von ihm ist, sein Investment zu erhalten und zu mehren. Im Falle der Insolvenz ist regelmäßig damit zu rechnen, dass seine Beteiligung wertlos zu werden droht“, sagt Schaumann. Wenn noch ausreichend Zeit vorhanden sei, dann könne der Investor auch gemeinsam mit der Geschäftsführung alternative Sanierungswege anstoßen. So biete es sich gerade bei Konflikten im Gesellschafterkreis an, an eine Bereinigung des Cap Table zu denken. „Neben dem allgemeinen Herauskaufen einzelner Investoren bieten sich auch noch eine Bereinigung auf Grundlage der Rechtsprechung zum ‚Sanieren oder Ausscheiden‘ an oder auch die Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens nach dem StaRUG“, fährt er fort. Grundsätzlich ist es laut Chrocziel wichtig, die Zeitachse im Auge zu behalten: „Die Lage kann schnell eine Dynamik entwickeln, die die Geschäftsführung zwingt, einen Insolvenzantrag zu stellen, um eine persönliche Haftung zu vermeiden. Ganz regelmäßig sind die Bestandsinvestoren dann aus dem Geld und können in einem eröffneten Insolvenzverfahren mit keinen Zahlungen mehr rechnen.“

Zeit ist kostbar

Die größte Gefahr sei erfahrungsgemäß, dass die Sanierung an der Zeitschiene scheitert: „Steht nämlich eine Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung unmittelbar bevor oder ist bereits eingetreten, so kann die weitere Finanzierung vielleicht deshalb scheitern, weil die Mittel nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden können“, sagt Schaumann. Basis für die Rettung müsse laut Chrocziel ein verbindliches und tragfähiges Konzept sein, mit dem die Durchfinanzierung mittel- bis langfristig sichergestellt wird. Je nach Einzelfall könne es dann verschiedene Möglichkeiten geben: „Zum Beispiel eine neue Finanzierung durch die Bestandsinvestoren, das Einwerben neuer Investments von Dritten, das Einsteigen von strategischen Partnern zur Übernahme der Working Capital-Finanzierung oder auch eine Lösung per M&A-Deal.“ Bei all diesen möglichen Rettungsszenarien sei jedoch der hohe Zeitdruck zu beachten.

Start-up-Rettung nicht leicht

Nach Erfahrung von Räupke ist eine Sanierung eines Start-ups in der Insolvenz zumeist ein schwieriges Unterfangen. „Wenn ich so zurückblicke, dann fällt bei etablierten Unternehmen die Rettung leichter. Wir finden hier ein oder mehrere Produkte vor, die am Markt mehr oder weniger etabliert sind. Es gibt ein Netzwerk von Kunden und auch Lieferanten, die ein Interesse am Fortbestand des Unternehmens haben. Das macht vieles leichter.“ Bewertungsvorstellungen und Verkaufsmöglichkeiten von Start-ups seien in der Insolvenz meist deutlich schlechter, als alle Beteiligten vermuten.

Fazit

Alle drei Experten stellen aktuell eine wachsende Zahl von Fällen fest. Auslöser sei oft, dass die Finanzierungsrunden nicht so verlaufen wie gehofft. Die deutlich verschlechterten Bedingungen wegen der gestiegenen Zinsen und des Drucks auf den Unternehmensbewertungen lasse hier den einen oder anderen Gründertraum zerplatzen.