Vom Start-up-Labor an die Front

Neue Perspektiven für Investoren

Niv Karmi (Polus), Dr. Christine Prokopf (VDI), Dr. Peter Wolff (EnjoyVenture Management)
Niv Karmi (Polus), Dr. Christine Prokopf (VDI), Dr. Peter Wolff (EnjoyVenture Management)

Bildnachweis: Polus, VDI, EnjoyVenture Management.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 von einer „Zeitenwende“ sprach, da war die Entwicklung der folgenden beiden Jahre nicht absehbar. Was bedeutet dieser Paradigmenwechsel für Gründer und für Investoren? Fließt mehr Geld in den Verteidigungssektor?

Für die Deutschen waren kriegerische Auseinandersetzungen üblicherweise Tausende von Kilometern entfernt – vielleicht abgesehen vom Jugoslawienkrieg vor zwei Jahrzehnten. Doch nun tobt ein Krieg direkt neben dem deutschen Nachbarstaat Polen und bestimmt damit auch die politische Debatte: 100 Mrd. EUR Sondervermögen für die Bundeswehr oder wöchentliche neue Debatten über Waffenlieferungen. So richtig angekommen ist die „Zeitenwende“ in den Köpfen vieler Menschen aber vielleicht erst, als der Fußballbundesligist Borussia Dortmund eine Werbepartnerschaft mit dem Düsseldorfer Rüstungsunternehmen Rheinmetall verkündete. Der Kampfpanzer Leopard 2, der Schützenpanzer Puma und die Panzerhaubitze 2000 werden hier hergestellt. Im Schlepptau des Dortmunder Deals schloss auch der Eishockeybundesligist Düsseldorfer DEG eine Partnerschaft mit Rheinmetall. In den Internetfanforen der Vereine ging es hoch her – so richtig hat sich die „Zeitenwende“ also noch nicht durchgesetzt.

Helsing aus Deutschland als Defence-Einhorn

Aber wie gehen Start-up-Unternehmen mit der veränderten politischen Lage um, die auch durch den wachsenden Bedarf an Militärtechnologie neue Möglichkeiten bietet? Aktivitäten im Bereich der Waffentechnologie waren bisher eher verpönt, doch das scheint sich zu drehen. Und wie verhalten sich institutionelle Investoren? Eines der deutschen „Vorzeige-Start-ups“ ist die Helsing GmbH, ein Softwareunternehmen mit dem Fokus auf KI-Fähigkeiten für den Sicherheits- und Verteidigungsbereich. Ende 2023 sammelte das Unternehmen in einer Series B-Finanzierungsrunde insgesamt 209 Mio. EUR ein. Ende 2021 waren bereits 100 Mio. EUR in das Münchner Unternehmen geflossen. Hauptinvestoren sind Prima Materia, eine von Spotify-CEO- und -Mitgründer Daniel Ek gegründete Investmentgesellschaft, sowie General Catalyst und die schwedische Saab-Gruppe. Laut verschiedenen Medienberichten ist eine Series C-Runde über 370 Mio. EUR geplant, die zu einer Unternehmensbewertung von 4 Mrd. USD führen könnte. Helsing ist nach eigenen Angaben seit 2022 in der Ukraine aktiv und stellt dort Fähigkeiten und Technologie für Fronteinsätze bereit.

Robotersysteme für militärische und kommerzielle Zwecke

Ebenfalls in München beheimatet ist ARX Robotics. Der Hersteller von skalierbaren Robotersystemen für den Masseneinsatz in militärischen und kommerziellen Anwendungen wurde von ehemaligen Soldaten gegründet. Unter anderem werden unbemannte Bodenfahrzeuge hergestellt, die sich leicht für eine Vielzahl von militärischen Szenarien ausrüsten. Mitte Juni bekam ARX eine Seed-Finanzierungsrunde in Höhe von 9 Mio. EUR. Lead-Investor war der NATO Innovation Fund; weitere Investoren sind Project A Ventures und Discovery Ventures.

„Dual Use“ ist das Zauberwort

Venture Capital-Investitionen in „Rüstungs-Start-ups“ sind derzeit beinahe unmöglich. Der Hintergrund liegt in den ESG-Regelungen und der EU-Taxonomie, die die Finanzierung solcher Technologien mehr oder weniger verbieten. Das „Zauberwort“ für die Branche lautet inzwischen „Dual Use“ – also die Möglichkeit zur Nutzung einer Technologie sowohl im militärischen als auch im zivilen Kontext. Bei Panzern oder Munition fällt die Vorstellung eher schwer, aber bei Softwarelösungen oder IT-Komponenten sind solche Kombinationen leichter denkbar. Die Grenzen der Technologien und Waffen verwischen zunehmend. „Institutionelle LPs müssen im Zweifel konkreter auch für solche Anwendungsfelder offen sein. Für bestehende Fonds ist dies sicherlich nicht leicht, aber bei neuen Fondskonzepten und auch neuen LP-Gruppen sehe ich hier durchaus Potenzial“, erklärt Dr. Peter Wolff, Geschäftsführer von EnjoyVenture. Der Frühphaseninvestor wurde 2000 gegründet und hat aktuell ein Portfolio von mehr als 50 Beteiligungen. Der Einstieg in den Dual Use-Bereich erfolgte dabei eher zufällig, nachdem sich im Jahr 2006 der Wagniskapitalarm des amerikanischen Verteidigungsministeriums für eine Beteiligung an einem Portfoliounternehmen mit einer sehr innovativen Sensortechnologie interessiert hatte. In der Folge beschäftigte sich Wolff deutlich intensiver mit den Dual Use-Investitionsmöglichkeiten. „Es ist aber auch so, dass der Bereich ‚Defencetech‘ erst seit zwei Jahren stärker im Fokus steht und in der Szene überhaupt diskutiert wird. Auch fehlte auf der Bedarfsträgerseite, also den militärischen Strukturen, nahezu vollständig die Offenheit für einen solchen Innovationsansatz. Also gab es diesen Markt gar nicht“, fährt Wolff fort.

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Europäische Ebene hat reagiert

Auf europäischer Ebene wurde das Problem mit den schwierigen Investments bei Militärtechnologie bereits erkannt. Dort wird aktuell das Defence Equity Facility-Programm im Rahmen des EU Defence Innovation Scheme aufgebaut. „Dieses Programm ist eine konkrete Möglichkeit für Investoren, die den zur Europäischen Innovationsbank gehörenden Europäischen Investitionsfonds mit in einen eigenen Investmentfonds hineinholen wollen, der europäische Unternehmen mit Dual Use-Technologien fördert“, erklärt Dr. Christine Prokopf von der Nationalen Kontaktstelle für den Europäischen Verteidigungsfonds, die beim VDI Technologiezentrum angesiedelt ist. Das VDI Technologiezentrum informiert und unterstützt im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung alle, die sich für die verschiedenen Bestandteile des Europäischen Verteidigungsfonds – und so auch die Defence Equity Facility – interessieren.

Defence Equity Facility soll Private Fonds anregen

Mit Investitionen in Höhe von 175 Mio. EUR zwischen 2024 und 2027 soll die Defence Equity Facility die Entwicklung eines Ökosystems privater Fonds anregen, die in Innovationen im Verteidigungsbereich investieren. Zudem hat der Verwaltungsrat der Europäischen Investitionsbank (EIB) eine aktualisierte Definition von Gütern und Infrastruktur mit doppeltem Verwendungszweck (Dual Use) genehmigt, die für eine Finanzierung durch die EIB-Gruppe infrage kommen. Die bisherige Anforderung der EIB, wonach Dual Use-Projekte mehr als 50% der erwarteten Einnahmen aus zivilen Anwendungen erzielen müssen, um für eine Finanzierung im Bereich Sicherheit und Verteidigung infrage zu kommen, entfällt künftig. Venture Capital-Manager Wolff sieht in dem Dreieck klassischer Defence-Unternehmen, Start-ups und Investoren vielerlei Chancen. Seiner Meinung nach ist dazu eine deutlich stärkere Zusammenarbeit mit etablierten Defence-Zulieferern wichtig. „Ich sehe am Horizont nicht das neue Rheinmetall oder Airbus der Militärtechnologie – vielmehr werden in Zukunft junge Technologieunternehmen die Kerntechnologien für immer schneller neu entstehende militärische Herausforderungen in ein komplexes militärisches Gesamtsystem zuliefern“, so Wolff. Die vollständige Vernetzung sei bei den Waffensystemen der Zukunft extrem wichtig, und hier würden sich zahlreiche Ansatzpunkte für weitere Entwicklungen bieten.

Zivile Anwendung mit mehr Entwicklungspotenzial?

Seinen Markt für die Zukunft sieht Niv Karmi, Geschäftsführer und Gründer des schweizerisch-israelischen Start-ups Polus AG, eher in der zivilen Anwendung – und das, obwohl seine Entwicklungen einen militärischen Nutzen haben können. Polus entwickelt flexible Netzwerklösungen, die sich an verschiedene Anwendungsfälle anpassen lassen. So hat Polus unter anderem ein autarkes System in der Größe eines kleinen Koffers produziert, das praktisch auf Knopfdruck ein lokales Mobilfunknetz erzeugen kann. Im Fall eines Hochwassers mit Zerstörung von Stromund Handynetz bietet das Gerät dann den Einsatzkräften eine Kommunikations-möglichkeit und kann dabei helfen, Verschüttete über ihre Handys zu finden. Genau diese Suche nach Handys hat dann aber auch einen möglichen militärischen Nutzen, indem damit feindliche Truppen aufgespürt werden. In Israel gebe es zahlreiche Tech-Start-ups, die hochtechnologische Neuentwicklungen aus dem eigenen Verteidigungsbereich später in einer zivilen Anwendung auf den Weltmarkt bringen. „Der Klimawandel bringt immer mehr und immer schlimmere Katastrophen weltweit. Wir konzentrieren uns inzwischen auf diesen zivilen Markt und wollen unsere Technologie hier zum Einsatz bringen“, fährt Karmi fort. Und weiter: „Angesichts der Chancen und der starken Kundennachfrage, die vor uns liegen, sind wir bei Polus der Meinung, dass sich die Bedingungen in der Branche in den letzten 18 Monaten deutlich verbessert haben. Dies bietet Möglichkeiten für Fusionen und Übernahmen sowie für eine Konsolidierung über das organische Wachstum hinaus.“

Universitäten wollen kooperieren

Nicht nur Venture Capital-Fonds, sondern auch Universitäten als Technologieschmieden hatten bisher eher Berührungsängste mit der Verteidigungsbranche. „In unserer Arbeit als Nationale Kontaktstelle sehen wir, dass mehr und mehr Universitäten Interesse haben, sich in der Verteidigungsforschung zu engagieren. Hier müssen jedoch an vielen Stellen noch Strukturen aufgebaut werden, welche die Kooperation mit der Industrie vereinfachen – wie beispielsweise bei der Arbeit mit eingestuften Informationen“, erklärt dazu Prokopf. Allerdings sind noch nicht viele Forschungskooperationen zwischen Universitäten (jenseits der Universitäten der Bundeswehr) und der Industrie etabliert; hier müssen zunächst Kontakte und Vertrauen aufgebaut werden. Die Kooperation mit Forschungseinrichtungen wie dem Deutschen Zentrum für Luftund Raumfahrt (DLR) oder Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft sei hingegen in vielen Fällen gut etabliert. Schnittstellen zwischen öffentlicher Hand, Wirtschaft, Wissenschaft und der Bundeswehr zu schaffen, um den gegenseitigen Austausch zu ermöglichen, ist in Zukunft eine zentrale Aufgabe, zu der nun auch das VDI Technologiezentrum beiträgt.