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Zunehmend verändern auch in Deutschland die digitalen Lösungen innovativer Start-ups und anderer IT-Anbieter die Art und Weise, wie Juristen arbeiten. Verbrauchern erleichtern sie den Zugang zum Rechtsmarkt. Als Gamechanger hat sich vor allem ChatGPT erwiesen. Damit hat die Zukunft des Rechtswesens aber wohl gerade erst begonnen.
Als sprachliche Mixtur aus Legal Services und Technology ist der Begriff Legaltech selbsterklärend. In der Praxis versteckt sich dahinter unterschiedlichste Software, die eine breite Palette innovativer Technologien nutzbar macht und digitale Anwendungen ermöglicht. So lässt sich im B2B-Bereich die juristische Arbeit effizienter gestalten – beispielsweise mit individualisierter Kanzleisoftware, KI-gestützten Tools zur Dokumentenerstellung und -analyse oder digitalen Lösungen für effizientes Wissensmanagement. Im B2C-Segment geht es dagegen meist um den Zugang zum Rechtsmarkt – so bieten etwa neue Onlineportale Verbrauchern Rechtsberatung und rechtliche Dienstleistungen zu Festpreisen. Laut der aktuellen Studie des Legal Tech Verbands Deutschland spielen weltweit rund 300 Unternehmen in der Legaltech-Landschaft eine Rolle. Rund 175 Unternehmen unterschiedlicher Größe und Reife davon sind auch in Deutschland aktiv. Dazu gehören Start-ups ebenso wie große IT-Entwickler, etablierte Softwareverlage und einige hybride Kanzleien, die ihren Mandanten sowohl Rechtsberatung als auch individuelle IT-Lösungen liefern. Für Start-ups ist Berlin die führende Legaltech-Metropole; Hamburg und München teilen sich Platz zwei. Auch interessant: Über 50% Gründer in diesem Segment haben eine juristische, betriebswirtschaftliche (25%) oder technische (25%) Ausbildung. Und: Die derzeit bekanntesten Legaltech-Produkte in Deutschland sind Bryter, Lawlift und Harvey AI.
Legaltech bewirkt systemische Anpassungen
Doch wie verbreitet ist Legaltech in der Praxis? Zumindest in deutschen Großkanzleien gehören die neuen Techniken bereits zum Berufsalltag. „Sie ermöglichen Wettbewerbsvorteile“, bestätigt Dr. Ernst Georg Berger, Gründer der Kanzlei Clarius.Legal mit Sitz in Hamburg. „Indem zahlreiche rechtliche Arbeitsschritte automatisiert ablaufen und Dienstleistungen maschinell erbracht werden können, lässt sich die anwaltliche Arbeit erheblich von administrativen und vorbereitenden Aufgaben befreien. Juristen bleibt somit mehr Zeit für den Kern der Mandatsarbeit: die erstklassige Beratung bei komplexen rechtlichen Fragestellungen.“ In der Breite der Branche sei das Thema trotzdem noch nicht angekommen. Dort experimentierten zwar viele Rechtsabteilungen und Kanzleien mit innovativen Technologien und KI, um sich ein Bild zu machen, wie diese die Transformation traditioneller Geschäftspraktiken beschleunigen können. Nach außen gebe sich aber zumindest die Anwaltschaft noch immer eher defensiv, denn: „Die Industrialisierung des Rechtsmarkts stellt sie vor grundlegende Herausforderungen“, so Berger. „Beispielsweise kann die notwendige Legaltech-Investition eine partnerschaftlich organisierte Sozietät abschrecken wegen der ungewissen Amortisationsdauer. Das klassische Anwaltsmodell, das auf der Maximierung abrechenbarer Stunden basiert, steht infrage, wenn KI-basierte Effizienzsteigerungen mit einem Bruchteil des bisherigen Zeitaufwands erzielt werden können. Wachsen muss auch noch die allgemeine Akzeptanz der neuen Werkzeuge: In der Juristenausbildung wird uns 100%ige Genauigkeit vermittelt, während Softwareentwicklung ein schrittweiser Prozess ist, bei dem hohe Qualitätsstandards sukzessive erreicht werden.“ Im Klaren sei sich die Branche dennoch, dass auf längere Sicht nicht mehr wettbewerbsfähig sein wird, wer nicht mit der Zeit geht.
Tech-Anbieter auch in der Anwaltschaft
Der techaffine Volljurist hat das getan, indem er seine Kanzlei hybrid aufgestellt hat. Das 40-köpfige interdisziplinäre Expertenteam von Clarius.Legal unterstützt seine Mandanten als Rechtsdienstleister und Spezialist für Compliance und Datenschutz sowie Arbeitsschutz und IT-Sicherheit. Daneben tritt die Clarius.Legal Data & Security GmbH als eigenständiger Tech-Anbieter auf, der maßgeschneiderte, skalierbare IT-Produkte bietet. Berger: „In einem Umfeld
stetig wachsender, haftungsrelevanter Regularien und interner Ansprüche wie Kostendruck, Fachkräftemangel und begrenzter Ressourcen fragen Unternehmen und ihre Rechtsabteilungen heute pragmatische, effiziente Lösungen nach: So viel juristische Expertise wie nötig, so viel Technik wie möglich, und das zu vernünftigen Preisen.“ Gegenüber Legaltech-Start-ups sei die Kanzlei zwar insofern im Nachteil, als sie wegen des noch geltenden Fremdbesitzverbots keine Investorengelder aufnehmen darf. „Um mit dem Wachstum des Markts Schritt zu halten, segmentieren wir auch deshalb unser Geschäft dort, wo wir mehr Kapital brauchen“, so Berger. „Vor allem sind wir von dem Mehrwert überzeugt, den wir unseren Mandanten bieten können: juristisches Spezialwissen inklusive Anwaltshaftung und individuell angepasste technologische Lösungen. Ein reines Softwareprodukt kann das nicht.“
KI verändert alles
Durch den Einsatz von Legaltech kann Rechtsberatung auch von einer individuellen Dienstleistung zu einem (zumindest teilweise) skalierbaren Produkt werden. Ein Beispiel liefert die Onlineplattform Raketenstart: Sie bietet Existenzgründern sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen eine kostengünstige rechtliche Begleitung mit E-Learning, KI-basierten Legaltech-Werkzeugen und individueller Videoberatung. „Wir sprechen bewusst nicht von Mandanten, sondern von Kunden“, sagt Madeleine Heuts, Juristin mit Programmierkenntnissen, Gründerin und CEO des Kölner Startups. „Durch uns sind sie nicht mehr ausschließlich auf Anwälte angewiesen, die ihnen – im Stundentakt abgerechnet – Beratung verkaufen. Stattdessen bietet ihnen unsere Plattform Zugang zu allen für sie relevanten Rechtsthemen. So gerüstet können sie selbst in die Anwendung gehen und mithilfe der angeschlossenen Partner unkompliziert wesentliche Aufgaben zu Festpreisen erledigen.“ Zuletzt hat ihr mittlerweile sechsköpfiges Team den gesamten Gründungsprozess digitalisiert. „Auf Raketenstart.de kann man jetzt innerhalb von fünf Tagen eine komplett neue GmbH gründen, inklusive des Notartermins per Videocall und der Eintragung ins Handelsregister“,
bestätigt Heuts. Diverse Notare, Rechtsanwälte und Unternehmer haben die Entwicklung als Business Angels unterstützt. Weitere Investorengespräche zur Skalierung des digitalen Start-ups werden derzeit geführt. Schließlich sollen bis Ende 2025 Tausende von Gründungen
über die Plattform erfolgt sein. „Durch ChatGPT haben wir alle erlebt, was KI im Kleinen bereits kann. Dabei sind Vertrauen und Vorstellungsvermögen gewachsen, wozu die Technologie im rechtlichen Kontext imstande ist. Fakt ist: Die großen Sprachmodelle sind gerade in textorientierten Handlungsfeldern wie dem Recht vielversprechend, um Beratung und Dienstleistungen effizienter, transparenter und kostengünstiger zu gestalten“, weiß die Unternehmerin. „Dazu eine gute User Experience und mehr Offenheit bei den Behörden – und schon kann man Innovationen fördern und beispielsweise Handelsregister, Finanz-und Gewerbeämter spürbar entlasten!“
Entwicklung geht hin zu Tech-Assisted Legal
„Wir stehen noch am Anfang“, lautet die Einschätzung von Markus Hartung, Rechtsanwalt, Mediator und Gründer des Bucerius Center on the Legal Profession an der Bucerius Law School. „Aktuell dominieren Tech-Assisted Legal Services den Markt – neue Technologien unterstützen also die juristische Arbeit, ersetzen sie bereits teilweise durch Automation. Der Einsatz dieser Programme ist vor allem interessant für spezialisierte Kanzleien mit einem hohen Anteil gleichartiger Fälle, in denen strukturierte Daten eine wichtige Rolle spielen und umfangreiche Dokumente zu bearbeiten sind“, erklärt der Experte, der selbst die Berliner Legaltech-Kanzlei Chevalier mitgegründet hat und außerdem mit seinem Beratungsunternehmen The Law Firm Companion Sozietäten in Strategie- und Managementfragen berät. „Aber der Wettbewerb wird weiter zunehmen. Dann wird sich
kaum eine Kanzlei leisten können, auf KI als mächtiges Werkzeug zu verzichten. Fest steht: Die Qualität der großen Sprachmodelle wird sich noch dramatisch verbessern, wenn sich die zugrunde liegende Datenbasis aus zuverlässigen Gerichtsdatenbanken und relevantem Kanzlei-Know-how zusammensetzt.“ Langfristig ist deshalb damit zu rechnen, dass KI vom Werkzeug zum Partner in Rechtsfragen heranreifen wird. Dann wird es vermehrt Anwendungen geben, bei denen das menschliche Können die technische Expertise flankiert. Einen Vorgeschmack bieten heute schon Smart Contracts, die darauf ausgelegt sind, von Maschinen gelesen und verstanden zu werden. Auch kann bereits die Blockchain-Technologie genutzt werden, um menschliche Mittelsmänner in verschiedenen Vertragsszenarien obsolet zu machen. Die Zukunft hat also auch in der traditionell konservativen Rechtsbranche bereits begonnen. Der Markt für Legaltech wird weiter wachsen.